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116 Zwischen zwei Revolutionen. Scheu der europäischen Mächte vor einem Krieg, der bei der herrschenden Auf regung und Porleiung und bei der politischen Reife der Völker leicht in einen Prinzipicnkanipf und Bürgerkrieg übergehen konnte, bewog die Regierungen zu manchen Zugeständnissen, nnd würde sic zu noch größerer Nachgiebigkeit bewogen haben, hätten nicht auf der einen Seite die ungestümen, mit Drohungen, Ver schwörungen und planlosen Aufständen verbundenen Forderungen und Bestrebun gen der Liberalen die Lenker der Staaten zu gemeinsamem Widerstande crmuthigt und gcnöthigt, und hätte nicht sehr bald die friedfertige Gesinnung des Bürgcr- königs, der die Anerkennung seiner Thronbcrechtigung und Ebenbürtigkeit nicht wie einst Kaiser Napoleon mit dem Schwert, sondern als ein „Napoleon des Friedens", mit den Waffen der Politik und Diplomatie zu erwerben suchte, die Befürchtungen der Fürsten zerstreut. Wie laut sich auch im Anfang die natio nale Mißstimmung über die verhaßten Verträge von 1815 in ganz Frankreich kund gab, wie sehr die revolutionäre Fortschrittspartei für die Ausdehnung der Grenzen am Rhein und in den Savoyer Alpen agitirte, dank der durch Talley- rand's diplomatische Thätigkeit bewirkten Allianz zwischen Frankreich und Groß britannien wurde ein europäischer Krieg vermieden, das politische Gleichgewicht der Staaten aufrecht erhalten. Es war für die Friedenspartei in Paris keine leichte Aufgabe, die aufgeregten Geister zu zähme»; die Gesellschaft der „Volks- freunde" sandte ein auf eigene Kosten ausgerüstetes Bataillon nach Brüssel; bei Gelegenheit der Kammerverhandlungen über die auswärtige Politik, wobei der Ministerpräsident Laffitte in einer berühmten Rede einen kriegerischen Ton an schlug, sprach General Lamark, ein volksbeliebter Abgeordneter: „Der Krieg ist ein so mächtiger Kitt, er wirft einen so glänzenden Strahlenschein um einen Thron, er gibt einer neuen Dynastie so tiefe Wurzeln, daß es politisch ist, ihn selbst ohne Beweggrund zu wollen". Selbst in London verfocht Talleyrand „wie ein Drache" die Ansprüche Frankreichs auf eine Grenzerweiterung gegen Belgien. Aber der bestimmte Ausspruch Palmerston's: „England wünsche lebhaft das beste Einvernehmen mit Frankreich zu pflegen und mit ihm in intimster Freund schaft zu verkehren, aber nur unter der Voraussetzung, daß Frankreich sich mit dem schönsten Gebiete Europas begnüge und nicht daran denke, ein neues Ka pitel von Uebergreifungen und Eroberungen zu eröffnen", und die aufrichtige Friedensliebe des Königs, der durch seinen Gesandten Mortemart in St. Pe tersburg feierlich versichern ließ, er werde allen revolutionären Kriegsleidenschaften widerstehen, dämpfte in Paris die Kriegslust und den Ruf nach bewaffneten In terventionen zu Gunsten der aufständischen Völker. Die Unabhängigkeit des Kö nigreichs Belgien nebst der Schleifung einiger Greuzfestungen war das einzige gelungene Ereigniß, das nach jahrelangen Unterhandlungen auf der Minister- Conferenz zu London aus der Julirevolution hervorging. Oft sah es während dieses diplomatischen Feldzugs stürmisch und kriegerisch genug aus. Aber die feste Erklärung des Ministers Palmerston, daß die Aufrechterhaltung der fran-