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114 Zwischen zwei Revolutionen. Ansichten aussprachcn, die „Gazette de France", welche unter dem Einfluß zweier hervorragenden Kammcrrcdncr sland, Larochcjacquclin's, des Erben der berühmten Vendecfamilie, und Berryer s des Meisters der oratorischen Kunst, die „Reforme", die dein radikalen Republikanisinus diente u. a., und bemerkten mit Schadenfreude, wie fast alle um Louis Philipps Thron gcschaarten Leute allmählich in der Achtung des Volks sanken und als „verbraucht" beseitigt wer den mußten ; sic freuten sich über die fulminanten Flugblätter, die LamennaiS, Cormenin u. A. gegen das System der Regierung in die Welt schleuderten, oder sie sogen arglos das Gist ein, das in schlüpfrigen und aufregenden Romanen, Theaterstücken und Sittenbildern dem Volke als geistige Nahrung geboten ward. „Frankreich langweilt sich", hatte einst Lamartine in einer Kammerrede gesagt. Cs war der richtige Ausdruck der Volksstimmung. Die oratorischen Schlachten im Abgeordnetenhaus, als bei Gelegenheit eines Besuches des Prätendenten von Chambord in London einige hundert französische Legitimisten ihrem „König Henry V." ihre Huldigungen und Loyalitätsversicherungen darbrachten und Jan. 1844. dafür in einer Kammeradresse als „Gebrandmarkte" bezeichnet wurden, vermochten diese Stimmung der Gleichgültigkeit und Langeweile nur vorübergehend zu ver scheuchen. Man freute sich, daß während der Verhandlungen ein Sturm von Schmähungen und Vorwürfen von den Oppositivnsbänken gegen Guizot los brach, der einst den flüchtigen Königshof in Gent aufgesucht hatte, und die hochmüthige Aeußerung des Ministers, daß die Beleidigungen und Entrüstungen der Gegner nie die Höhe seiner Verachtung erreichen würden, blieben dem mn die Gunst des Königs buhlenden Staatsmann unvergessen. Um die Zeit, da eine mangelhafte Ernte eine. Vertheuerung aller Lebensmittel erzeugte und den ärmeren Theil des Volkes in Noth und Verzweiflung setzte, traten so viele An zeichen von Corruption und Veruntreuung, so viele Beweise einer tiefen sittlichen Entartung in den Regierungs- und Dcputirtcukreiscn zu Tage, daß ein unheim liches Gefühl der Entrüstung alle Schichten der Gesellschaft durchdrang. Diesem Gefühle gab Girardin's „Presse" den lebhaftesten Ausdruck. Es sollte deshalb eine gerichtliche Verfolgung von dem Pairshof gegen den kecken Zeitungsschreiber eingeleitet werden. Dazu war die Genehmigung des Abgeordnetenhauses erfor derlich. Bei dieser Gelegenheit erhob Girardin so viele Beschuldigungen gegen die Regierung, daß die Opposition eine Untersuchung verlangte. Aber die Ma jorität der Kammer einigte sich in dem Beschluß, daß sie von den Gegenerklä- J-m.4847.rungen der Minister „befriedigt" sei und ging znr Tagesordnung über, ein Beschluß, der die mißtrauische Meinung des Volkes mehr reizte als beruhigte. Mit Hohn züchtigte die Oppositionspressc die „Befriedigten". Um diese Zeit schied l. Jan. 1847. die Prinzessin Adelaide aus dem Leben, die kluge und getreue Rathgebcrin des Königs, die Vertraute seiner Politik, der er seine geheimsten Gedanken mitzu- thcilen pflegte, und auf deren Stimme er das größte Gewicht legte, ein unersetz licher Verlust für den Bruder, dem sie stets mit unwandelbarer Hingebung zu-