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1254 L. Neueste Zeitgeschichte i» ihrem äußeren Verlaufe. die Unterwerfung der Balkanländcr erleichtern, noch als Lchnßmacht den Türken zur Seite stehen. Das Augenmerk des Londoner TorycabinctS war hauptsächlich darauf gerichtet, falls die Integrität der Türkei nicht mehr zu erhalten sei, einen möglichst großen Antheil aus dem Schiffbruch für sich selbst zu retten und in keinem Falle zuzugebc», daß Rußland sich Constantinopcls und der Dardanellen bemächtige. Auch Oesterreich stand auf der Wache. Andrassy ließ sich weder durch die türkenfrcundlichcn Demonstrationen der Magyaren noch durch die Sym pathien, die man in Prag, in Agram nnd in andern Slewenstädten für die Russen aussprach, in seiner Politik bestimmen. Er traf alle Vorbereitungen, um, wenn der russisch-türkische Krieg zum Ausbruch käme, die Interessen Oesterreichs zu wahren, die freie Schifffahrt der Donau zu erhalten und Vosnicn für den Kaiser staat der Habsburger zu gewinnen. Je mehr im Laufe der nächsten zwei Jahre Rußland und England anseinandcr gingen, so daß zeitweise ein Krieg zwischen den beiden Großmächten nor der Thürc zu stehen schien, um so mehr warb man an der Newa wie an der Themse um die österreichische Bundcshand. Durch diese vorsichtige Haltung erwarb sich die Politik Andrassy's das Vertrauen nnd den Beifall des deutschen Reichskanzlers, der, wenn er auch mehr zu dem be freundeten Rußland hiuncigte, doch in erster Linie die Erhaltung des Friedens im Auge hatte und darum an der Rolle eines Vermittlers festznhaltcn entschlossen war. Schon bei Eröffnung des Reichstages, am 30. Oktober, hatte die von dem Präsidenten des Rcichskanzleramtes Hofmann, Delbrück's Nachfolger ver lesene Thronrede hervorgehobcn, daß der Kaiser unausgesetzt bemüht sei, unter den Deutschland nachbarlich (Oesterreich und Rußland) und geschichtlich (Eng land) näher stehenden Mächten den Frieden zu erhalten, und versichert, „daß, was die Zukunft auch bringen möge, Deutschland das Blut seiner Söhne nur zum Schutze seiner eigenen Ehre und seiner eigenen Interessen einsctzen werde", eine Politik, welche der Reichskanzler bei einer späteren Gelegenheit als die eines „ehrlichen Maklers" kennzeichnete. Dik H-uwng Obwohl die Forderungen des Botschaftcrrathes, daß die Reformen in den Balkanländern unter der Controle und „Bürgschaft" der europäischen Mächte Ps!-i"vvr sich gehen sollten, zu dem Standpunkte der Pforte, die ihre „völkerrechtliche Unabhängigkeit" behauptete, in prinzipiellem Gegensatz standen, die Fortsetzung der Conserenzen somit ziellos geworden war; so wurden die Verhandlungen doch nicht sogleich aufgegeben, vielmehr zur Erleichterung derselben der Waffenstill stand auf zwei Monate verlängert. Erst als der Sultan die in dem Ultimatum der Conferenz-Diplomatcn ausgestellten Hauptpunkte, Betheilignng der „christ lichen Mächte" bei Ernennung der Provinz-Statthalter und einen „internationalen 2an. Ucbcrwachnngsausschuß" zurückwics, wurde die Confcrenz durch den Marquis von Salisbury für aufgelöst erklärt, worauf sämmtliche Botschafter einzeln die Hauptstadt am goldenen Horn verließen, nur Geschäftsträger zurücklassend. Nun wurde die Lage der Türkei immer drohender und verwickelter. Mochte auch