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1248 L. Neueste Zeitgeschichte in ihrem äußeren Verlaufe. die Thronfolge seinem Neffen zu entziehen und unter russischer Beihnlfe seinem eigenen Sohne zuzuwendcu, hatten die Gläubigen mit solchem Unwillen wider de»! Herrscher erfüllt, daß seine Entthronung beschlossen und ohne Gewalt- thätigkeilcn bewirkt ward. Die Sofias oder Thcologicstudircndcn Ihatcn sich zusammen und rückten in langem Zuge vor den Palast des Großhcrm, die "'^Absetzung des Großwcsicrs Mahmud Pascha, der für einen Anhänger Ruh lands galt, und des Scheich «ul - Islam verlangend. Der erschrockene Sultan gewährte ihre Forderungen und ernannte zwei andere GroßbcanUc. Damit ivar jedoch der Staatsstreich nicht zn Ende. Abdul-Aziz faßte den nicht un- gegründeten Argwohn, daß die Bewegung von seinem Neffen und seinen Brüdern ausgegangcn und seiner eigenen Person gelte. Er ließ daher die Ver dächtigen in Gewahrsam bringen, während er sich selbst in das Innere seiner 2«. M-i. Gemächer barg. Da beschloß sein eigener Minislerrath, unter Zustimmung deS neuen Scheich-ul-Jslam, seine Entsetzung und erklärte den rechtmäßigen Thron folger M urad V. zum Herrscher der Gläubigen. Aus die Kunde von diesen Vorgängen gab, wie die öffentlichen Berichte meldeten, Abdul-Aziz sich selbst 4. Jun,, den Tod, indem er in einem Anfall von Irrsinn mit einer Scheere sich die Pulsadern öffnete. TüMchkRr. Unter dem neuen Sultan Murad V., dessen Gemüthsleideu einige Zeit und^Äm'. verborgen gehalten ward, versuchten die drei Minister, der Großwesier Rusch di, AÄA" der energische Kricgsminister H u ssei n Avni und der gebildete Midhat durch politische Reformen nach Art des europäischen Parlamentarismus mit Selbst verwaltung und gleichen Rechten für alle Rcligionsparteien, aber aus eigener Initiative der Regierung, eine Regeneration des Osmanischen Reichs zu be gründen, unabhängig von äußeren Einflüssen. Trotz Koran und Harem sollte die abendländische Eivilisation an den Bosporus verpflanzt werden. Dazu war vor Allem die Unterdrückung der Jnsurrection die nöthige Vorbedingung, sowohl der offenen in der Herzegowina und Bosnien als der erst im Keim und in der Vorbereitung begriffenen bulgarische». Im geschichtlichen Leben des türkischen Volkes ist es öfters vorgckommen, daß innere Erschütterungen die sonst apathische» Orientalen zu energischer Kraftcntfaltung aufrüttelten, die träge Natur und dm schlummernden kriegerischen Geist zu rascher Aktion antrieben. Die Vorgänge in Salonichi, wo das drohende Auftreten der christlichen Mächte, die zum Schutze ihrer Angehörigen Geschwader in das Mittelmeer entsandte», ein Strafgericht erzwang, das von den Anhängern des Propheten als eine Dcmüthigung ange sehen ward; die Palastrevolution, welche dem unwürdigen Sultan Thron und Leben kostete; die blutige Rachethat des sanatischeu Circassiers Hassan, durch welche zwei der Urheber des revolutionären Staatsstreiches, Raschid und Hussein is. Ium Avni, dem Mordstahl in der Rathssitzmig zum Opfer fielen, alles dieses erzeugte in den muselmanischen Kreisen, insbesondere bei der Armee, eine leidenschaftliche Erregung. Der gegen den Willen der Omladinistischen Agitatoren zu frühe