Volltext Seite (XML)
Il52 L. Neueste Zcitgcschichtc in ihrem äußeren Verlaufe. Der aklivcn Armee mit fünfjähriger Dienstpflicht und bcibchaltencr Stellvcrm- tung sollte eine „Territorialarmee", eine Art Landwehr zur Seite stehen. Und so groß waren die Anforderungen an den wehrhaften Theil der Nation, daß die französische Kriegsmacht an Zahl jede andere übertraf. Mit Gcnugthuung durfte Thiers auf die Resultate seiner Thätigkcil zurückblickcn. In gehobener Stimmung begab er sich im August nach dem Scebadc Tcouville, um dort in Gemeinschaft mit dem Kricgsminister Cisscy Schicßczpcrimenlc mit neuen Kanonen vorzu- nehmen. W-chstnd- Aber die Stellung des Präsidenten zur Nationalversammlung war nicht g'g-n ihi-iV besser geworden. Unter dem Druck der Ereignisse hatte einst die Nation Vcrtrctcr gewählt, die ihr den heiß ersehnten Frieden schaffen sollten. Es zeigte sich jedoch bald, daß die Gewählten keineswegs der Ausdruck der gejammten Nation, ja nur des größeren Theiles derselben waren. Bei den Nachwahlen erlangten mei stens Republikaner die Stimmenmehrheit, ein Beweis, daß die „conservative Republik', welche Thiers ausbauen und erhalten wollte, nach dem Sinne des französischen Volkes war. Aber je mehr die monarchischen Elemente sich sammel ten und verständigten, desto mehr suchten sie den republikanischen Charakter von der Regierung abzustreifen: die bestehende Ordnung sollte als eine Art Interim so lange fortbcstehen, bis die Errichtung einer monarchischen Regierung möglich sein würde ; daher hintertrieben sie alle Versuche, welche geeignet schienen, die republikanische Verfassung definitiv zu befestigen. Aber auch die Linke, wo der feurige Gambetta das entscheidende Wort führte, war mit der Zwitterschöpfung einer „konservativen Republik" keineswegs befriedigt; sie verlangte, daß die Ver sammlung ihre Selbstauslösung beschließe und neue Wahlen anordne, denn ße sei nur zur Herstellung des Friedens berufen worden; nach Beendigung dieser Aufgabe sei sie verpflichtet, der Nation ihr Mandat zurückzugeben; jedes weitere Fungiren sei eine Usurpation. In diesem Sinne suchte Gambetta auf mehrere» Rundreisen die öffentliche Meinung zu bearbeiten. Diese agitatorische Thätigkeb des ehemaligen Dictators war den Monarchisten ein Aergeruiß, und da Thiers den republikanischen Umtrieben und Wühlereien, wenn er sie auch nicht billigte, doch auch nicht mit ganzer Energie cntgcgcntrat, so wurde die Kluft zwischen ihm und der Rechten immer weiter. Der alte Orleanist Changarnier sprach i» öffentlicher Versammlung seinen Unwillen aus, daß die „provisorische Regierung" dieser „Liga der Zerstörung" gegenüber nicht die nöthige Festigkeit zeige. M» nannte ironisch Gambetta den „Dauphin". Wohl stand das Centrum, in eine linke und rechte Seite geschieden, in der Regel auf Seiten der Regierung; aber auch in seinen Reihen herrschte oft in den wichtigsten Fragen Verschiedenheit der Meinungen. Bei solcher Parteiung konnte ein gesundes Staatsleben nicht Wurzel fassen: der Präsident hatte nicht das Recht, die Versammlung, die ihn gewählt hatte, auszulösen; und doch vermochte er auch nicht, sic zu Beschlüssen zu brin gen, welche der Verfassung ein bestimmtes republikanisches Gepräge gegeben