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1. Erstes Lustrum nach dem Frankfurter Frieden. 1137 österreichischen Kaiserhaus auStauschen; selbst der König Victor Emanuel leistete der Einladung Folge und gab durch seinen Besuch in der Kaiserstadt den Be weis. daß die alte Feindschaft zwischen den beiden Reichen beendigt sei und die Monarchen und ihre Völker, zum großen Acrgcr der Ultramomancn, gemein same Wege zur Erreichung gemeinsamer Zwecke und Aufgaben des modernen Staals zu verfolgen gesonnen seien. Und wie einst der Sultan die Staaten und Haupt städte des westlichen Europa besucht hat sS. 693), so erlebte jetzt die Welt das eigcnthümlichc Schauspiel, daß der persische Schah, „der König der Könige" mit großem orientalischen Gefolge in Pracht und Edclgestein prunkend die europäische Welt durchzog, in den Residenzen der hohen Potentaten und Fürsten längeren oder kürzeren Aufenthalt nehmend. Bald nach dem Schluß der Weltausstellung wurde das fünfundzwanzigjährige Regierungs-Jubiläum Franz Joseph's iiii^"^ beiden Reichshälftcn großartig gefeiert und hinterließ eine gehobene Stimmung. Im Februar hatte Kaiser Franz Joseph eine Reise nach Petersburg un- ternommcn, eine Begebenheit, von der inan eine neue Befestigung des herzlichen Einvernehmens mit Rußland erwartete. Seitdem wollte man bemerken, daß die'E"- antideutsche reaktionäre Partei, als deren Führer Erzherzog Albrecht bezeichnet ward, bei Hofe wieder mehr an Boden gewann. Ein Wechsel im Ministerrath, wo der als freisinniger Reformer in der Armee bei den Anhängern der guten alten Praxis nicht beliebte Kriegsminister Kuhn seines Postens enthoben und durch General v. Koller ersetzt ward, schien eine Wirkung dieser Veränderung in der Temperatur des Hofes zu sein. Eine Broschüre-über das Artilleriewescn, die zu Anfang des nächsten Jahres unter dem Namen des Erzherzogs Johann Salvator erschien, gab dieser dem preußisch-deutschen Staat und der dem liberalen Geiste abgewendeten Stimmung und Gesinnung so offenen Ausdruck, daß dem jugendlichen Schriftsteller eine Strafversetzung aufcrlegt werden mußte. Aber wie oft auch die Scala der öffentlichen Meinung steigen oder sinken mochte, bei jeder Gelegenheit bewährte sich die Erfahrung, „daß die Oesterreicher wie die Ungarn trotz allen häuslichen Zankes und trotz aller aufregenden Scenen im Herzen gut kaiserlich und treu habsburgisch fühlen und denken. Wenn dies eine historische Thatsache ist, so fallen dadurch auch alle feudalistischen und ultramon tanen Vorspiegelungen, als gerathc die habsburgische Monarchie in Gefahr, wenn sie modernen ccntralistischen Prinzipien folge und die kleinen Nationali täten so wie die Junker und Bischöfe auf das gebührende Maß verweise. Nicht der Adel und nicht die katholische Kirche als solche sind die Träger der großen Doppel-Monarchie an der Donau, sondern die um den Thron geschaarten, durch zeitgemäße freisinnige Ideen, durch Aufklärung und Bildung, durch soliden Un- ternchmungsgeist gehobenen, gefestigten und geeinigten Völker". Daß dieser „solide Unternehmungsgeist" vor Allem geweckt und gepflegt werden müsse, hat das große Gerichtsdrama, das in dem „Prozeß Ofenheim" die Gemüther wäh rend der ersten Wochen des Jahres 1875 so mächtig aufrcgte und beschäftigte, W-ber, W-Itgeschichli. XV. 72