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I. Erstes Lustrum nach dem Frankfurter Frieden. 113l tief genug ließ sich der Reichskanzler Graf Beust mit dem Herzog von Gramont ein iS. 970). Nur die raschen Erfolge der deutschen Waffen und das Miß trauen gegen Rußland verhinderten den verabredeten Kriegsbund, und der ge wandte Siaatsmann fand sich schnell in die neuen Verhältnisse. Wie wenig auch die Gründung des deutschen Reichs unter Preußens Acgide in der Hofburg und den maßgebenden Kreisen Wiens Sympathien erregte, so unterließ Gras Beust doch nicht, in einem Schreiben an Bismarck die besten Wünsche für das große historische Ereigniß auszusprcchen und eine freundschaftliche Annäherung beider Reiche in Aussicht zu stellen. Auch bei dem Sicgesfcste in Berlin fehlte cs nicht an Kundgebungen von Seiten des österreichischen Kaisers, so wenig sie auch von Herzen kamen. Desto aufrichtiger begleiteten die deutsche Bevölkerung und die liberale Presse die Siege der Stammesgenossen mit warmer Theilnahme; sie er kannten mit richtigem Gefühle, daß der nationale Aufschwung im Nachbarreiche auch ihnen Stärke verleihen werde. Und gerade jetzt war den österreichischen Deut schen eine moralische Stütze mehr als je vonnöthen; denn die slavischen Völkerschaf ten, die init ihnen in derselben Reichshälfte vereinigt sind, vor allem die Czcchen in Böhmen strebten nach einer vorherrschenden Stellung, wie sie die Magyaren in dem östlichen Theile des Reichs inne haben. Wie die Centrumsfraction im Ber liner Reichstag, so suchte auch hier eine feindselige Partei das deutsche Wesen, die deutsche Bildung und Wissenschaft zu unterdrücken, und anstatt des deutschen Liberalismus eine ultramontane, slavische, feudale Coalition an die herrschende Stelle im österreichischen Rcichsrath zu bringen. Was der rcichsfeindlichen Par tei in Berlin nicht gelang, erreichten ihre Gesinnungsverwandten in Wien: zum allgemeinen Erstaunen trat im Februar ein Ministerium an die Spitze der Re- Mr. isri. gierung, dessen Hauptmitglieder, der ultramontane Hohenwart, der slavisch- klerikale Iirec e k, der schwäbische Particularist Sch äffle, der czechische Habie- tinek keine anderen Verdienste aufzuweiscn hatten, als daß sie dem neuen deut schen Reich mit seinen nationalen Tendenzen und liberalen Fortschrittsidecn von Grund der Seele feind waren. Wie viele Experimente die Welt seit zwei Jahr zehnten im österreichischen Regicrungssystem erlebt hatte; dennoch erregte diese Schöpfung einer im Verborgenen wirkenden reactionären Eamarilla, eines aus Nationalen, Jesuiten, Feudalen bestehenden „föderalistischen Rattenkönigs" gerechte Verwunderung. Nachdem das neue Cabinet, von den Witzblättern als „Faschingsministerium" bezeichnet, seinen Standpunkt durch die Unter sagung öffentlicher Kundgebungen für die deutschen Siege offenbart, trat es nach längeren Vorbereitungen mit Gesetzvorlagen hervor, welche, im Widerspruch mit der Deccmberverfassung vom Jahre 1867 und dem ungarischen „Aus gleich" (S. 931 f.), die Autonomie der einzelnen Länder Cisleithaniens auf Kosten der Reichseinheit erweitern, insbesondere einen dem Staatsvertrag mit dem ungarischen Transleithanien sich annähernden „Ausgleich mit den Czechen" und eine größere Selbständigkeit der Polen in Galizien anbahnen sollten. Den