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I. Erstes Lustrum nach dem Frankfurter Frieden. 1129 weise wurde der Reichskanzler, der gerade den Arin zum Gruße erhoben, nur an der rechten Handwurzel ungefährlich gestreift; aber ein banges Gefühl durchzog die Nation, welche Folgen für das noch im Werden und Bilden begriffene Reich ein Gelingen des Mordan'chlags hätte haben können. Kullmann wurde von dem Schwurgerichte zu Würzburg zu vierzehn Jahren Zuchthaus verurthcilt, und die klerikalen Wortführer und Zeitungen bemühten sich aus allen Kräften, von ihrer Partei jede Urheberschaft und Mitschuld abzulcngncn, die ganze Be gebenheit in ihrer Bedeutung abzuschwächen, den Thäter als einen halbvcrrücktcn, kaum zurechnungsfähigen Menschen hinzustcllcn ; aber der Reichskanzler gab dem Gefühle der Nation den rechten Ausdruck, als er in der Folge den Ultramontanen, welche einen leidenschaftlichen, „landcsverräthcrischcn" Angriff gegen die Politik Bismarck's richteten, zurief: „möge» Sic sich auch noch so sehr von dem Mörder lossagen, er hängt sich doch an Ihre Rockschöße". Der Angriff im Reichstag war hauptsächlich von Jörg ausgegangcn, der schon im Juni im baierischen Abgeordnetenhaus einen, freilich durch Abfall aus den eigenen Reihen vereitelten, jesuitischen Fechtcrstrcich gegen dm Cultusminister Lutz geführt. Seit dem Tode Mallinckrodt's, des tapfersten und sichersten Streiters für die päpstliche Kirche, verlor das Centrum seinen festen Halt auf dem Kampfplatz. Das erschütternde Ereigniß von Kissingcn war eine Mahnung an die Freunde deutscher Weltanschauung und deutscher Reichspolitik, auch ihrerseits sich mehr uni die unteren Volksschichten zu bekümmern und dem religiösen Fana tismus der Gegner durch Erweckung vaterländischen Gemeinsinnes entgcgen- zuwirken. Durch „Volksbildungsvercine", durch „Kriegervercinc und durch an dere gesellige Veranstaltungen suchte man dem agitatorischen Treiben der Ultramontanen ein wirksames Gegengewicht zu schaffen. Auch dem Bestreben, den Sedantag zu einer allgemeinen Nattonalfeier zu erheben, lag die Absicht zu Grunde, dem vaterländischen Sieges- und Machtgefnhl einen entsprechenden Ausdruck zu geben. Die hirtenamtliche Abmahnung gegen die Feier durch Bischof Kettelcr fand selbst in katholischen Kreisen Widerspruch und trug nicht wenig bei, daß „der Geburtstag des neuen Deutschen Reichs" am 2. Septembers-Mr. in ganz Deutschland als ein Nationalfest gefeiert ward. Daneben gab sich auch auf wissenschaftlichem und religiösem Gebiete ein reges Streben kund, die dem Papismus und dem Jnfallibilitäts-Dogma abgeneigten Kräfte zu sammeln und zu einem activercn Vorgehen anzuspornen. Auf einer unter Döllinger's Vor sitz zu Bonn abgehaltencn Unionsconferenz wurde die Idee angeregt, alle „alt- ir. S-Mr. katholischen" Episcopalkirchen, die wie die griechische, anglicanische, deutsch- niederländische den römischen Supremat nicht anerkennen, zu einem gemeinsamen , Verhalten gegenüber dem jede nationale Gliederung verschmähenden vaticani- schen Papalsystem zu vereinigen; und auf einer Generalsynode der deutschen a. S-Mr. Altkatholiken in Freiburg unter der Leitung des Bischofs Reinkens wurde der Fortbau der von Rom und dem Jesuitismus abgewandten Religionsgcmeinden