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1122 L. Neueste Zeitgeschichte ii: ihrem äußeren Verlause. Schleiermachers gewirkt, im Jahre 1872 durch einen im Unionsvercin gehalte nen Vortrag „über die wunderbare Geburt Jesu" den Zorn der Orthodoxen erregt hatte. Darüber von dem Brandenburger Consistorium zur Rechenschaft gezogen, hatte er seinen Standpunkt klar und offen dargclcgt und sollte deshalb durch den Urthcilsspruch dieses Collegiums mit Amtscnlsctzung bestraft werden. Cr legte Berufung an den Oberkirchenrath ein, wo zu Anfang des Jahres 1873 Or. E Herrmann, bisher Professor des KirchenrcchtS in Heidelberg, als Präsident eingctrcten war, ein Mann, der mit der Achtung vor der geschichtlichen Entwicke lung deö protestantischen Christcnthnniö und seiner GrnMchrcn eine weitherzigere Auffassung und ein klares Verständnis; für die Ideen der Zeit und die Bedürf nisse der Gegenwart verband. Und es konnte als günstiges Wahrzeichen des milderen Geistes und der toleranteren Anschauungen der obersten Kirchcnbchörbc und ihres neuen Hauptes gelten, daß sie, ohne sich von den eifrigen Agitationen und dem von oben her versuchten Druck beirren zu lassen, den Urthcilsspruch des 2. Jun 187». Cousistoriums zuerst milderte, dann aufhob und statt der Amtsentsetzung einen geschärften Verweis über den Beklagten verhängte, in dessen Auftreten man ein fach eine Taktlosigkeit sah. Dieser Geist der Versöhnung und der Ausgleichung der confessionellen Spaltungen innerhalb der evangelisch-protestantischen Kirche gab sich auch in der großen Ausgabe kund, die sich der neue Präsident in Neber- einstimmung mit dem CultuSministerium gestellt, die vorhandenen kirchlichen Gestaltungen zunächst in den sechs älteren Provinzen je nach ihrer historischen Entwickelung zu einem verfassungsmäßigen Ausbau zu bringen, d. h. den srüher gescheiterten Versuch, durch Einführung einer allgemeinen Prcsbyterial- und Synodalordnung das kirchliche Leben zu fördern, mit zeitgemäßen Veränderun gen zu erneuern. Zu dein Ende wurde eine Kirchcnvcrfassung ausgearbeitet und zuin Gesetz erhoben, welche von dem Prinzip der Selbstverwaltung und der vor wiegenden Bethciligung des Laieneleincnts ausgehend eine slufenmäßige Gliede rung des kirchlichen Organismus von den durch freie Wahl constituirteu Ge- meindekörperschaflen, dem Gemeindekirchcnrath und der Gemeindevertretung' durch Kreis- und Prvvinzialsynvden zu der allgemeinen Generalsynvde Herstellen und damit eine größere Theilnahme an dem Leben und der Entwickelung des protestantischen Kirchenwesens und ein regeres Interesse für die religiöse Betha- tigung erwecken sollte. Ueberall erkannte man in dec Aufstellung der neuen Kü- chcngemeinde- und Synodalorduung das Bestreben, „ein spontanes Leben und Regen der evangelischen Gemeinschaft nicht blos zu erzeugen, sondern demselben auch einen möglichst reichen Inhalt, möglichst würdige Gegenstände der Arbeit )N geben". Man wollte zugleich dem sogenannten Laienstande eine derartige Orga nisation zu Theil werden lassen, „daß die in demselben vorhandenen kirchlich handlungsfähigen Kräfte zum Dienste in den Aufgaben des Gemeinwesens in möglichstem Unifaugc herangezvgcn und mit dem gebührenden Antheil an der Selbstbestimmung der Kirche ausgcstattet wurden". Die Stimmen des Wider-