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1110 L. Neueste Zeitgeschichte in ihrem äußeren Verlaufe. der KriegSplan entworfen: man suchte durch unmittelbare Vorstellungen am Throne das Herz des Kaisers zu erschüttern, den jugendlichen König von Baiern zum Einschreiten gegen sein Ministerium zu bewegen. Die katholische Welt wurde in Schriften und Reden mit Schmähungen gegen den gottlosen Zeitgeist, mit Klageliedern über die Drangsale der Kirche und ihrer Bekenner erfüllt. Sal bungsvolle Hirtenbriefe und geistliche Ansprachen in de» langathmigen Phrasen eines veralteten „Curialstils" bildeten einen eigcnthümlichen Contrast zn der offe nen präcisen Sprache des Reichskanzlers. Es wurden Mittel und Wege gewählt, die einen revolutionären Beigeschmack hatten. Erzbischof Lcdochowski von Posen, von nationalem und religiösem Haß gegen Preußen erfüllt, wurde vom Papst zum „Primas von Polen" ernannt und in dem römischen Kalender unter den regierenden Fürsten aufgcführt als Stellvertreter der polnischen Könige. Aui allen Anzeichen ging hervor, daß Rom den alten Kamps gegen Deutschland zu erneuern gedenke. In einer Ansprache an die Deputation eines katholischen deut schen Vereins schloß Pius IX. eine seiner Klagrcdcn über die „Verfolgung der Katholiken" mit den Worten: „Seien Sie vertrauend und einig; denn irgend ein Stein wird von der Höhe herabfallen und den Fuß des Kolosses zertrüm mern". Wie freute man sich in Paris über die ultramontane Bundesgenossen- schaft, welche der französischen „Revanche" eine so nachdrückliche Unterstützung in Aussicht stellte! Aber wie hoch man immer die Macht einer inehr als tausend jährigen, auf die höchsten Anliegen der Menschheit gerichteten Institution an schlagen mag; sie steht jetzt Gewalten gegenüber, die ihr einen ganz andern Widerstand zu leisten vermögen, als einst die Gegner im Mittelalter, dem mo dernen Zeitgeist mit seinen durch Wissenschaft und Erfahrung errungenen Wahr heiten und dem preußischen auf monarchische Autorität und nationale Wehrkraft aufgebauten Rechtsstaat, der aus kleinen Anfängen unter Käinpfen und Nöthen emporgewachsen, seine mühsam erworbene Machtstellung um seiner Sclbsterhal- tung willen zu behaupten suchen muß. Und daß man in Berlin diese Nothwen digkeit erkannt habe und entschlossen sei, nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben, sondern das begonnene Werk hinauszuführen, dafür zeugten die Vorbereitungen zu einer Reihe neuer Gesetze und Reformen von liefeingreifender Wirkung. Die fromme religiöse Gesinnung des Monarchen, der die treue Erfüllung seiner Re gentenpflichten stets in erste Linie stellte, war Bürgschaft, daß, indem man dem Kaiser zu geben suchte, was des Kaisers ist, mau auch nie versäumen werde, Gott zu geben, was Gottes ist. Auf Grund einer vom Cultusminister veran stalteten Conferenz von Kirchenrechtslehrern und andern Fachmännern wurden von der Regierung Gesetzesvorlagen für den preußischen Landtag in Angriff ge nommen, welche das Grenzgebiet zwischen Staat und Kirche genauer bestimmen und die gegenseitigen Rechte feststellen sollten. Dieselben betrafen den gesetzlichen Austritt aus der Kirche, die kirchlichen Straf- und Zuchtmittcl, die Vorbildung der künftigen Seelsorger und die Einsetzung eines obersten Gerichtshofes für kirch-