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1100 L. Neueste Zeitgeschichte in ihrem äußeren Verlaufe. der Herstellung des zerrütteten Staatswesens aus alle Weise zu erleichtern, durch Neubesetzung des Botschaftcrpostcuö de» diplomatischen Verkehr wieder cinrich- tctc, dem Präsidenten der Republik vertrauensvoll cntgegcukam und jede billige Ausgleichung förderte, sah man doch nicht gleichgültig zu, wie Frankreich alle seine Kräfte anspamtte, um seine Armee in erhöhter Stärke wieder herzustcllcn, wie es gleich dem deutschen Reich die gesummte Nation zur Wehrpflicht heran- zog, seine Artillerie in guten Stand setzte, durch Verbesserung seiner Heercs- organisation die erlittenen Schäden heilte. Bei dem gereizten Geiste des Volks, das den Gedanken an einen Krieg der Rache und Vergeltung sorgfältig pflegte und unterhielt, dessen Haß und feindselige Gesinnung sich bei jeder Gelegenheit kundgab, mußte man auf eine neue Schildcrhebung gefaßt sein und Gcgenan- stalten treffen. Zu dem Ende wurden in Straßburg und Metz neue Festungs werke geschaffen, in allen deutschen Bundesländern die Landwehr nach preußi schem Muster eingerichtet, das gesammte Kriegswesen in guten Stand gesetzt. Wie sehr immer im gegnerischen Heerlager über den preußischen „Militarismus" geeifert ward, die Regierungen gedachten des alten Spruches: wer Frieden wolle, müsse zum Kriege-gerüstet sei». Zugleich suchte der Reichskanzler die östlichen Großmächte zu einer freund- 'unfi^n schaftlichen Haltung zu bewegen und die hie und da noch immer hervortretende un günstige Stimmung zu verscheuchen oder zu mildern. In Oesterreich sah die deutsche Bevölkerung dem Aufschwung des stammverwandten Reiches mit Sympathie ent gegen und die deutsche Presse verfehlte nicht, diese Gesinnung zu erhalten und zu beleben; dagegen wurzelten bei der Aristokratie, in den Kreisen der Klerikalen und Ultramontanen und bei den nichtdeutschcn Stämmen die Gefühle des Hasses, des Neides, des Argwohnes zu tief, als daß diese einflußreichen Klassen zu einer ehrlichen Handreichung sich hcrbeigelassen hätten. Auch in Rußland waren die Empfindungen des Wohlwollens und der Freundschaft nur auf den Kaiserhof und auf wenige Glieder der höheren Gesellschaft beschränkt, die Masse des Volkes, so weit hier ein Verständnis; der öffentlichen Dinge cinzudringen vermag, und die moskowitische Aristokratie hielten sich kühl in der Ferne. Mit Geflissen heit wurde dort die preußische Eroberungssucht verdächtigt, als ob es auf eine An- nectirung der russischen Ostseeprovinzen an das deutsche Reich abgesehen sei. Bei solchen Bestrebungen mußte mau in Berlin großen Werth darauf legen, die Welt zu überzeugen, daß wenigstens bei den Herrschern selbst und bei ihren Näthcn das beste Einvernehmen bestehe, daß man in Wien wie in St. Peters burg die neugeschaffene Ordnung vertrauensvoll hinnehme und einträchtig die Fortentwickelung und den Aufbau der bestehenden Verhältnisse vor sich gehen lassen wolle. Dieses wichtige Resultat wurde erzielt durch die Zusammen- S-xibl. 1872. kunft der drei Kaiser in Berlin. Es war nicht eine Erneuerung der heilige» Allianz gegen die Völkerfreiheit wie ehedem, als die drei mächtigsten Monarchen, begleitet von ihren Ministern des Auswärtigen, in der Hauptstadt des deutsche»