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VI. Der brutsch-franz. Krieg u. das neue deutsche Reich. 1071 die Zahl der Gefangenen auf 15,000 stieg, und die Schneefeldcr weithin mit Todten und Verwundeten, die man ohne Hülfe und Pflege liegen ließ, bedeckt waren. Bourbaki, von Gambetta mit Vorwürfen überhäuft und über das namenlose Elend in Verzweiflung gesetzt, legte Hand an sich selbst. Allein die Kugel ging fehl und verwundete ihn nur leicht am Kopfe. Er wurde nach Lyon gebracht, wo er bald wieder genas. An seine Stelle trat General Clinchant, und diesem blieb, nachdem das Regiment Colberg die Stadt Pontarlier besetzt und dann nach einem zähen Berg- und Waldgcfccht die durch zwei Forts geschützte Thalstraße von La Clusc sorcirt hatte, nur die traurige Wahl einer Capitulation wie bei Sedan oder eines Uebertritts auf den neutralen Boden der Schweiz. Er zog den letzteren Ausweg vor. Er schickte einen Adjutanten an General Herzog, welcher mit eidgenössischen Truppen die Grenze bewachte, um von der Schweizer Republik „für eine brave und befreundete Armee, die unter dem Zwange des Unglücks auf deren Boden Zuflucht suche" Nahrung und Obdach zu erbitten, und schloß dann mit demselben zu Verriercs eine Convention, kraft deren die französischen Soldaten nach Ablieferung der Waffen und des Kriegsmaterials die Grenzen der Schweiz überschreiten durften. Und so erlebte denn Europa das merkwürdige Schauspiel, daß eine Armee von 85,000 Mann im elendesten Aufzuge, halb verhungert, zerfetzt und im unreinlichsten Zustande sich nach der Schweiz rettete. Das stolze Frankreich mußte den Schutz und die Gastfreundschaft der helvetischen Kantone anflehen. In endlosen Zügen bewegten sich die waffenlosen kriegs gefangenen Truppen durch die Jurapässe in die Kantone Neuenburg und Waadt, um dann durch die ganze Republik vertheilt und internirt zu werden. Nur General Cremer vermochte mit einem Theil der Cavalieris den heimathlichen Boden zu erreichen. „Das ist also die vierte französische Armee, die zum Weitcr- kampf unfähig gemacht ist", telegraphirte König Wilhelm am 1. Februar von Versailles aus. Die Schweizer hatten nun Gelegenheit, die Sympathien, die sie während des ganzen Krieges für Frankreich an Tag gelegt, durch Werke der Wohlthätigkeit und Nächstenliebe im reichlichsten Maße praktisch zu bcthätigcn. Wie widerwärtig aber einem großen Theil der Bevölkerung ein solcher Ausgang , war, bewies die kleinliche Rache gegen die Deutschen in Zürich, als diese ihrem Vater- ländischen Gefühl durch eine Sieges- und Friedensfeier in der Tonhalle Ausdruck geben wollten. Ohne durch Polizei oder Militär gehindert zu werden, drangen internirtc Franzosen und Züricher Arbeiter in den festlich geschmückten Saal, zwangen die Ver sammelten, unter denen viele Professoren der Universität und des Polytechnicums mit ihren Frauen sich befanden, durch Mißhandlungen und Drohungen zur Flucht und demolirten die Räumlichkeiten. Zn solchen rohen Wuthausbrüchcn machte sich der Acrger Luft über den so unerwarteten und unerwünschten Ausgang des großen Krieges und die lästige Gastfreundschaft, zu der sich die Republik gezwungen sah. Der Präsi dent des Kantonraths entschuldigte die Auftritte mit der Befürchtung des Volkes vor der neuen Machtstellung Preußens und dem Mitleid mit der zu Boden getretenen fran zösischen Nation, an welche die Schweiz mit stärkeren Banden der Freundschaft gebunden sei. „Von der Furcht zum Haß ist nur ein kleiner Schritt".