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314 Nr. 7. STAHL UND EISEN.“ 1. April 1894. andern Seite sich nicht auch eine Anlage oder gleiche Ausbildung findet. Schenkelbrüche scheinen gelegentlich plötzlich entstehen zu können, jedoch fand mau in den zu solcher Annahme Anlafs gebenden Fällen nur ganz kleine Brüche, die unter den lebhaften Schmerzen der leichteren Einklemmung sogleich dazu führten, ärztliche Hülfe in Anspruch zu nehmen. Werden ent sprechende Angaben von vornherein gemacht, so soll man dem Unfallverletzten glauben. Von ganz besonderer Bedeutung bei Unfalls verletzungen ist eine Bruchart, welche in der Mittellinie des Bauches sich findet und nach unseren Erfahrungen von den Aerzten häufig übersehen wird. Es ist vorgekommen, dafs selbst eine Aerztecommission die Ansprüche eines Ver letzten zurückgewiesen hatte, bei dem sich zwei Bauchbrüche fanden. In einer dieses Leiden behan delnden Arbeit habe ich vor einigen Jahren gezeigt, dafs die unscheinbaren, die Gröfse einer Haselnufs gewöhnlich noch nicht einmal erreichenden, Brüche die Arbeitsfähigkeit in ungemein hohem Grade, 50 °/o, schädigen können infolge der fast regel- mäfsig vorhandenen Netzverwachsung, und zugleich habe ich directe Beweise für die Möglichkeit ihres Entstehens durch Verletzungen gebracht. —- Nach den Acten, welche mir über solche Fälle zur Kenntnifs kamen, ist vielfach den Betroffenen Unrecht geschehen durch Ableugnung des traumatischen Ursprunges dieser Bruchart, be sonders aber dadurch, dafs die Gröfse der Be schwerden , welche selbst bei Erbsengröfse des Bruches bedeutend sein kann, nicht richtig ge würdigt wurde. Für die Folgen einer selbst bei gewöhnlicher Berufsarbeit entstehenden Einklemmung eines Bruches ist meines Erachtens die Genossenschaft haftbar, sei es, dafs Brand des Bruchinhaltes ohne oder trotz Operation zum Tode führte, oder dafs eine Kothfistel bezw. ein widernatürlicher After entstand. Bei den bisher besprochenen Arten der Ueber- treibung aus einem gewissen Nothstande heraus sind wir Aerzte in der Lage, durch geeignetes Verfahren die Gegensätze zwischen Anforderung und Verweigerung zu versöhnen. Wenig ver mögen wir bei einem andern Grunde der Unwahr haftigkeit, der Furcht nämlich, infolge der vor handenen Minderung der körperlichen Tüchtigkeit bezw. der Verstümmelung lohnende Arbeit über haupt nicht mehr finden zu können. Die Frage, „wo soll ich Krüppel Arbeit finden, da so viele junge kräftige Leute umherlaufen,“ an den mit der Beurtheilung beauftragten Arzt gestellt, kann diesen wohl leicht dazu bringen, den unpar teiischen Standpunkt zu verlassen und zu Gunsten des Verletzten zu fehlen. Es wäre an der Zeit, dafs die Ortsvorstände, denen durch das Unfall versicherungsgesetz eine so gröfse Last ab genommen wurde, der Frage der Beschäftigung | der Invaliden näher treten. Leider geschieht oft das Gegentheil, indem versucht wird, die nur I theilweise invaliden Verletzten durch Bescheini- | gungen als ganz arbeitsunfähig hinzustellen. — Vielfach verweigern Arbeitgeber, um etwaigen Auskünften u. dergl. aus dem Wege zu gehen, überhaupt die Anstellung von Arbeitern, welche eine Rente beziehen; das ist kleinlich. Geradezu traurig ist es aber, zu erfahren, dafs Arbeitgeber sich nicht schämen, Unfallverletzte, welche voll kommen die frühere Arbeit leisten, nur dann zu beschäftigen, wenn sie sich einen Abzug am Lohne in der Höhe der Rente gefallen lassen*. Empörend ist es, unter solchen, mir wiederholt von den glaubwürdigsten Leuten bestätigten, Um ständen vom Arbeitgeber die Notiz in den Acten zu finden, dafs er nur aus Barmherzigkeit (!) den Verletzten beschäftige. — Bei solcher Schwierigkeit, Arbeit zu finden, erscheint es be greiflich, wenn bei einer Revisions-Untersuchung der Verletzte in gröfster Angst fragt: soll mir schon wieder abgezogen werden? und wenn er dann mit gröfster Hartnäckigkeit die Besserung leugnet, selbst dann, wenn unzweifelhafte Be weise für dieselbe vorliegen. — Sache der Ver waltungsbehörden ist es, unsere Arbeiter gegen solche Ausbeutung in Schutz zu nehmen, Auf gabe der Vereine für öffentliche Wohlfahrts bestrebungen, neben der .Fürsorge für Blinde auch die für die Invaliden zu betreiben. Es ist von den verschiedensten Seiten gegen die Schiedsgerichte in berufsgenossenschaftlichen Angelegenheiten und auch gegen das Reichs- Versicherungsamt der Vorwurf erhoben worden, in den Entscheidungen die Arbeiterfreundlichkeit zu weit zu treiben. Vom Standpunkte des Arztes können wir es nur billigen und es dem Sinne des Gebers unseres socialen Gesetzes entsprechend finden, wenn selbst bei erwiesener Unwahrhaftig keit noch so milde verfahren wird, sobald es sich um Uebertreibung im Nothstande handelt und die Begleitumstände ein strenges Eingreifen nicht unbedingt erfordern. Ganz anders mufs aber die Beurtheilung aus fallen gegenüber der böswilligen Uebertreibung und dem böswilligen Simulantenthum. Die rein betrügerische Gewinnsucht, die Lüge aus Hafs gegen die bestehende Ordnung, müssen, zumal da, wo sie die gröfste Wohlfahrtseinrichtung unseres Jahrhunderts gefährden, rücksichtslos mit den gesetzlichen Mitteln bekämpft werden. Für Sachkundige schreibend, brauche ich nicht den ganzen scheufslichen Schmutz aufzurühren, welcher der Pest der böswilligen Simulation zu Grunde liegt. Leider sind schon ganze Bezirke von ihr durchseucht. Da sitzen in ihrem Unfalls- * In der rheinisch-westfälischen Grofseisen- und Stahlindustrie, deren Arbeiterverhältnisse uns genau bekannt sind, kommt dies unseres Wissens sicherlich auch niemals vor. Die Redaction.