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Hohes Alter und anderweitige vom Unfall unabhängige Erkrankungen geben bei einer weiteren Reihe von Verletzten den Grund zur Uebertreibung ab. Senectus ipsa morbus, lautet ein alter Spruch, das Alter ist selbst eine Krankheit. Es tritt bei Verletzungen betagter Leute nicht nur leichter der Tod ein, auch der örtliche Verlauf ist lang- sanier, und besonders fehlt dem Verletzten höheren Alters die Fähigkeit, die Function ganz oder theilweise verloren gegangener bezw. un brauchbar gewordener Theile durch stärkere In anspruchnahme anderer zu ersetzen. Die Besse rung durch sogenannte Gewöhnung ist mit steigendem Alter immer vorsichtiger anzunehmen. I Die sorgfältige Erwägung der Umstände wird den Arzt meist dazu führen, bei älteren Leuten für gleiche Schäden im Einklang mit den bezüglichen Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes eine wesentlich höhere Rente zu empfehlen. Be- sonders schwer ist die Aufgabe, welche dem Taktgefühl des medicinischen Sachverständigen i erwächst in solchen Fällen , wo körperliche Störungen functioneller Art, die im Greisenalter । an sich häufig sind, mit dem Unfälle in Be ziehung gebracht werden: Kraftlosigkeit der Arme und Beine, Zittern bei Verletzungen der Extremitäten, Herabsetzung des Seh- oder Hör vermögens bei Kopfverletzungen, hartnäckige Katarrhe der Luftwege, Emphysem und Asthma nach Brustquetschungen, Störung der Urinent leerung nach Stöfsen gegen den Bauch oder den Rücken. Im Zweifelfalle wird die Anerkennung j der erhobenen Ansprüche immer empfohlen werden müssen, und man wird um so eher für die Verletzten eintreten können, je glaubwürdiger sie sich im allgemeinen erweisen. — Da, wo objectiv nachweisbare Veränderungen auf den Unfall zurückgeführt werden, ist die'Aufgabe । leichter. Besonders häufig habe ich bei Ver letzung eines Gelenkes die Beziehungen der Folgezustände zu der mit Rauhigkeiten in vielen Gelenken einhergehenden Alterserkrankung (Ar thritis deformans) beurtheilen müssen und stets empfohlen, da wo ein Plus von diesen Ver änderungen im Vergleich mit dem symmetrischen Gelenke sich fand, unter Umständen selbst über dasselbe hinaus die Entschädigung zu gewähren; es mufs dann angenommen werden, dafs die Verletzung die in Entwicklung begriffene Er krankung ungünstig beeinflufste. Die Unfallverletzung eines Arbeiters, der bereits infolge einer früheren Verletzung nicht mehr völlig arbeitsfähig ist, oder an einer andern Erkrankung bezw. deren Folgen leidet, bringt regelmäfsig schwierige Verhältnisse. Vom all gemein menschlichen Standpunkt ist es ja be greiflich, wenn der Verletzte einen möglichst grofsen Theil der Minderung seiner Erwerbs fähigkeit als vom entschädigungspflichtigen Unfall abhängig darzustellen sucht. Der beurtheilende Arzt wird sich immer gegenwärtig halten müssen, dafs eine Schädigung, welche einen durch Krank heit oder frühere Verletzung minderwerthigen Körper betrifft, in ähnlicher Weise wie bei höherem Alter viel bedenklicher ist in Hinsicht auf die Möglichkeit des Ausgleiches. Im übrigen bin ich aber doch der Ansicht, dafs es eine Ver letzung der ärztlichen Pflicht wäre, kritiklos Alles dem Unfall zur Last zu legen, selbst dann, wenn der Verletzte durch Uebermafs der Anstrengung I seines kranken Körpers vor der letzten Be schädigung, dasselbe leistete, wie gesunde Ar beiter in gleicher Beschäftigung und wenn er somit anscheinend völlig erwerbsfähig war. Es ist mir in einer Reihe von Fällen nicht zweifel haft geblieben, dafs Familienväter einen leichten Unfall nicht nur ausnutzten, sondern auch herbei führten, um nach Erlahmung ihrer übermäfsig angestrengten Kräfte den Angehörigen die Relicten- rente zu sichern. Bei Erfüllung der schweren Aufgabe, die Ansprüche einer Wittwe als un begründet abzuweisen, müssen wir uns daran halten, dafs im Deutschen Reiche unter allen Umständen für sie und ihre Angehörigen ge sorgt wird.* Es mufs hier selbstredend davon Abstand genommen werden, auf die Beziehungen zwischen Unfall und auch nur den wichtigsten Erkrankungen einzugehen; wir beschränken uns auf eine Aeufserung über die Tuberkulose, die Zucker harnruhr und die Brüche am Unterleib. Schon vor 10 Jahren habe ich im Gegensatz zu der damals herrschenden Anschauung betont, dafs die Verletzung eines Knochens oder Ge lenkes die Ursache zum Ausbruch der tuber kulösen Erkrankung an der betroffenen Stelle sein kann, genau so, wie zu einem acut unter Vereiterung verlaufenden Processe; ich wies darauf hin, dafs es gerade geringfügigere Ver letzungen, nicht die Knochenbrüche, sondern die leichteren Quetschungen, nicht die Gelenkverren kungen, sondern einfache Gelenkverstauchungen sind, welche für die Ansiedelung der Tuberkel bacillen günstige Verhältnisse schaffen. So kann es nun kommen, dafs ein Verletzter in den Ver dacht der Unwahrhaftigkeit geräth, wenn er den Zusammenhang der tuberkulösen Knochen- oder Gelenkaffection , also einer sehr ernsten Er krankung, mit einem Unfall behauptet, die ihn kaum einige Stunden für die Arbeit hinderte. Wohl ist dann für den Ausbruch der Tuberkulose erforderlich, dafs in der Säftemasse des Ver- * In Nr. I des gegenwärtigen Jahrgangs unserer Zeitschrift haben wir dargelegt, aus welchen Gründen vor der Hand an eine Wittwen- und Waisenversorgung nicht zu denken ist. Unserer persönlichen Meinung nach hätte man besser gethan, dieselbe an die Stelle unserer jetzigen Invaliditäts- und Altersversicherung zu setzen. Die Redaction.