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1. April 1894. .STAHL UND EISEN.“ Nr. 7. 311 Eine richtige Erörterung der Simulationsfrage ist nicht möglich, wenn von vornherein nicht zwei Gruppen auseinander gehalten werden, die jenige von sonst ordentlichen Leuten, welche unter gleich zu besprechenden Bedingungen aus einer gewissen Nothlage heraus den Grad vor handener Störungen einfach übertreiben, von der anderen, der Gruppe böswilliger Simulanten. Die einfache Uebertreibung der Unfallsfolgen ist die Regel, sowohl bei Arbeitern als auch bei Leuten anderen Standes; auch die Mittel, welche zur Täuschung des ärztlichen Beurtheilers an gewendet werden, sind bei allen Ständen die selben. Eine der Ursachen einfacher Uebertreibung ist infolge einer Schwäche der menschlichen Natur anscheinend fast allgemein vorhanden. Wer an einem inneren Leiden erkrankte, erfährt bedauerndes Mitleid und verheimlicht nicht selten selbst dem Arzte Folgezustände seiner Krank heit; — eine Verletzung durch äufsere Gewalt, unter geringerer oder gröfserer Lebensgefahr er litten, verleiht einen gewissen Nimbus; unbewufst wird der Hergang des Unfalls in übertriebener Weise geschildert, desgleichen die körperlichen Schäden und die mit ihm verbundenen Leiden. Selbst da, wo eine Entschädigung gar nicht in Frage kommt, werden Folgen von Verletzungen gern zur Schau getragen. Ein verständiges Wort des Arztes genügt, um derartige Ueber- treibungen zu erledigen, welche kaum ernstlich zur Begründung von Ansprüchen gemacht werden. Anders liegt die Sache dann, wenn die Begleit umstände des Unfalls wirklich einen besonders starken Eindruck auf den Geist des Verletzten ausübten, einen psychischen Shok veranlafsten. Wie ein sonst muthiger Reiter nur schwer zu bewegen ist, ein Pferd wieder zu besteigen, das mit ihm einmal durchging, so wird oft der Unfallverletzte von einer unüberwindlichen Furcht beherrscht, wieder zur Schiefsarbeit im Stein bruch, in der Grube und dergl. zurückzukehren, selbst dann, wenn nach Lage der Acten die eigentliche Körperverletzung kaum nennenswerth war, und den Folgen derselben keine Bedeutung für die Arbeitsfähigkeit beigemessen werden kann. In der Regel sind derartige Verletzte mit einer mäfsigen Rente zufrieden, welche zusammen mit dem anderweitig Erworbenen auffallenderweise oft nur die Hälfte des früheren Arbeitsverdienstes ausmacht. Aber auch eine völlig unbegründete Rente wird unter solchen Verhältnissen mit einer Hartnäckigkeit vertheidigt und mit einer Leiden schaftlichkeit, welche den ersten Uebergang zu der geistigen Störung bildet, die wir als Schreck neurose bezeichnen. Es unterliegt für uns keinem Zweifel, dafs ein Mensch, welcher bei einer Explosion weithin geschleudert wurde, trotz völliger Heilung seiner körperlichen Beschädigung längere Zeit zu regelrechter Arbeitsleistung un fähig sein kann, infolge des psychischen Traumas, und dafs diese Unfähigkeit durch falsche Be handlung zu einer dauernden werden kann. Grundfalsch wäre es, unter solchen Ver hältnissen schroff vorzugehen. Aufgabe des be handelnden Arztes ist es, den Angstzustand zu erkennen, — ihn besonders nicht von vornherein für Simulation zu halten. Der Verletzte mufs Ruhe haben und besonders eine solche des Geistes; zu dieser gelangt er aber gewifs nicht, wenn er merkt, dafs man ihm nicht Glauben schenkt. Kommt gar unvorsichtigerweise irgend ein Zwang in Anwendung, der den seiner Meinung und auch der Wirklichkeit nach Unfähigen zur früheren Arbeit zurückbringen soll, dann kann es nicht ausbleiben, dafs er sich durch Ueber treibung und schliefslich durch Lüge zu wehren sucht. — Selbst auf die Gefahr hin, zu viel des Guten zu thun, ist es zu empfehlen, solche durch den Unfall geängstigte Verletzte an geeignetem Orte in frischer Luft bei kräftigender Behandlung so lange verweilen und auch entsprechend be schäftigen zu lassen, bis der Schrecken aus geklungen ist, und sie selbst den Wunsch fühlen, die wiedergewonnene frühere Körperkraft zur Arbeit zu verwenden. — Das ärztliche Gutachten, welches nach der Entlassung als Grundlage für die Entschädigung zu dienen hat, mufs ganz be sonders auf das Bestehen der Verzagtheit, bezw. auf die Neigung dazu hinweisen und davor warnen, die Arbeitsfähigkeit des Verletzten zu sehr in Anspruch zu nehmen. Eine reichliche Bemessung der Rente — die durch den Unfall herbeigeführte Aengstlichkeit an sich mufs ent schädigt werden! — entspricht hier ganz be sonders dem Sinne des Gesetzes. Abzüge von dem Festgesetzten dürfen eigentlich nur dann gemacht werden, wenn der Verletzte selbst eine wesentliche Zunahme seiner Arbeitsfähigkeit zu- giebt. Die Aufregung eines fortgesetzten Kampfes gegen nicht genügend begründet erscheinende Herabsetzungen der Rente kann gewifs bei solchen nervös weniger widerstandsfähigen Leuten den, völlige Erwerbsunfähigkeit bedingenden, Zustand der traumatischen Neurasthenie oder Hysterie herbeiführen. Als im Nothstande der Angst dem ärztlichen Untersucher gegenüber befindlich, sind milde zu behandeln viele unmündige Verletzte und solche mit geringen Geistesgaben. Die ihnen von Ver wandten oder Vormündern beigebrachte Lection von Klagen halten sie oft wirklich zunächst mit grofser Hartnäckigkeit fest; dann — häufig unter dem Einflufs des Heimwehs — geben sie plötzlich der Wahrheit die Ehre; gleich nach ihrer Heim kehr meldet ein Brief, dafs die Beschwerden wieder da seien. Solche Schreiben werden nicht viel Berücksichtigung finden können, wenn die bei der Entlassung gemachten Angaben sich mit dem objectiven Befunde deckten.