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289 STAHL UND EISEN.* Nr. 7. April 1893. nehmern und Arbeitgebern lastende Gefühl, dafs bei unserer Regierung Kräfte mafsgebend wirken, die von einem ungezügelten Drange getrieben werden, die arbeitenden Volkskreise nach ihrer Art zu beglücken, von Noth und Sorge zu be freien — Kräfte, denen aber das Verständnifs für das Erreichbare fehlt, denen ein ausreichendes Urtheil darüber fehlt, was mit der natürlichen Entwicklung der Dinge und Verhältnisse vereinbar ist. Meine Herren, ich bin mir des Ernstes dieses Ausspruches vollständig bewufst, auch der Verantwortung,'die ich damit übernehme; aber, meine Herren, wir dürfen doch nur auf einige neuere Ereignisse blicken, um die Beweise dafür klar in der Hand zu haben. Denken Sie an die Bestimmungen über die Sonntagsruhe im Handelsgewerbe. Sie sind am 1. Juli v. J. in Wirksamkeit getreten; kaum acht Tage ver gingen, da mufsten schon Bestimmungen aufser Kraft gesetzt werden. Es hat sich dieser Vor gang im Laufe dieser kurzen Zeit wiederholt, und | jetzt, meine Herren, ist unter dem 15. December eine Verfügung an die oberen Verwaltungsbehörden | ergangen, in der sie aufgefordert werden, die | Sache noch einmal zu prüfen, noch einmal zu untersuchen, und nach diesen Untersuchungen sollen diese Bestimmungen dann geändert werden. Meine Herren, es sind grofse Handelsbetriebe aufs | schwerste geschädigt worden. Nehmen Sie I die Tabäksindustrie. Unser verehrter Freund, Herr Commerzienrath Möller, hat sich dieser Industrie angenommen und eine grofse Enquete gewissenhaft veranstaltet. Es hat sich daraus ergeben, dafs der Absatz am Sonntag um 461/2% abgenommen hat. Man vertröstete die Industrie darauf, dafs sich Jeder die 'Cigarren, die er Sonntags rauchen will, am Sonnabend • kaufen würde. Aus der Enquete geht aber hervor, dafs der Absatz am Sonnabend nur um 11/2% zu genommen hat, und da man nicht nachträglich das rauchen kann, was man am Sonntag vorher versäumt hat (Heiterkeit), so hat auch der Absatz am Montag nicht zugenommen, sondern er hat nm 2 % abgenommen — wahrscheinlich infolge der schweren wirthschaftlichen Lage. Der Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands hat von den Ausführungs - Bestimmungen in Bezug auf die Sonntagsruhe für seine Industrie Kenntnifs erlangt. Bei der betreffenden Versammlung waren hohe Vertreter der Reichs- und Staatsregierung an wesend. Als diese Bestimmungen zur Verhandlung kamen, erregten sie einen Sturm des Entsetzens und der Entrüstung über die unnöthigen Er schwerungen , welche der Industrie auferlegt werden sollten, und über die Unkenntnifs der thatsächlichen Verhältnisse, welche dabei zu Tage trat. Die Vertreter der Regierung hatten nichts Schleunigeres zu thun, als zu versichern, dafs es ja nur die Entwürfe seien, die einer nophmaligen Prüfung, auch durch Sachverständige, unterzogen werden sollen; aber, meine Herren, die Entwürfe waren eben von jenen ungezügelten Kräften in unserer Regierung gemacht, die kein Verständnifs für die thatsächlichen Verhältnisse haben (Beifall), und das ist ein Uebelstand, unter dem die Industrie in hohem Grade leidet. In meinem Referat über die Wirkungen der neuen Gewerbeordnung werde ich Gelegenheit haben, meine Behauptungen noch weiter zu belegen. Ich glaube, dafs die productiven Kreise auch unter dem Eindruck der, nicht allein bei der Berathung der Gewerbeordnungsnovelle, sondern bei allen derartigen Anlässen gemachten Erfahrung leiden, dafs sie von derjenigen Körperschaft, bei der sie am ersten Verständnifs und Vertretung suchen müfsten, im Reichstage, keinen Schutz und keine Hülfe zu erwarten haben. Was wir vom Reichstage in dieser Beziehung zu erwarten haben, das hat Kaplan Hitze, der grofse Kenner der Arbeiterverhältnisse und unserer deutschen Production, in der mehrerwähnten dreitägigen Debatte uns klar gemacht. Er hat bedauert, dafs der Normalarbeitstag nicht auch für die Männer zu erreichen sei; in der Erkenntnifs aber, dafs für grofse und bedeutende Industrieen die Fest setzung des 11 stündigen Normalarbeitstages für die Frauen auch ebensogut Norm für die Männer wird, hat er angekündigt, dafs er demnächst zuerst einen Antrag auf Verkürzung dieses Normal arbeitstages'für Arbeiterinnen auf 101/2 und dann, wenn das erreicht ist, einen Antrag zur Ver kürzung auf 10 Stunden stellen werde. Dafs er den völligen Ausschlufs der verheiratheten Frauen von aller Arbeit will, ist bekannt. Er will die Berufsgenossenschaften ermächtigen, die Arbeits zeit in ihrem Gewerbe auch für Männer festzu stellen und damit die Production zu regeln. Er stellte die Entschädigung der Arbeitslosen, eine Frage, die in unseren Regierungskreisen auch schon ventilirt worden ist, als ein ernstlich zu erstrebendes Ziel hin, das erreicht werden mufs; dafs die Sonntagsruhe ihm nicht weit genug geht, ist selbstverständlich, und schliefslich erklärte er den Socialdemokraten in einer späteren Sitzung, dafs er bedauert habe, bei der Berathung über die Gewerbeordnungsnovelle nicht mehr erreicht zu haben, dafs, wie er sich ausgedrückt hat, er auf manche Vorstöfse habe verzichten müssen. Das ist der Kaplan Hitze, der stete Vertrauens mann der Regierung bei allen auf das angebliche Wohl der Arbeiter gerichteten Veranstaltungen und Fragen, ein Mann, der, wenn er nicht von anderen Motiven geleitet ist, auch zu den unge zügelten Kräften gehört, die ohne Rücksicht auf die praktischen thatsächlichen Verhältnisse nach ihrer Weise die Arbeiter glücklich machen wollen. So kommt Eins zum Andern. Störung der Arbeit durch die Arbeiterverhältnisse; Einengung der Arbeit und Production und des Erwerbes VII.18 4