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4 Nr. 1. STAHL UND EISEN.“ 1. Januar 1894. sind, die aus Unkenntnifs der gesetzlichen Be stimmungen es unterlassen haben, ihre Rechte geltend zu machen. Hiernach sind für das Jahr 1893 schon rund 35 000, für das Jahr 1894 rund 45 000 Invalidenrenten in Ansatz zu bringen. Am 1. Januar 1894 werden sich voraussichtlich 46 500 Personen im Genufs der Invalidenrente befinden. Diese Zahl wird sich im Laufe des Jahres 1894 unter Abzug des Abgangs um 37 500 erhöhen, also auf 84000. Die Gesamml- belastung des Reiches an Zuschüssen zu den Alters- und Invalidenrenten ist für 1894'95 auf 13 960000 •N geschätzt. Welche Verpflichtungen aber werden in eben diesem Reich bis jetzt schon seitens der Arbeit geber erfüllt? Im Jahre 1891 hatten die sämmt- liehen Krankenkassen an Beiträgen und Eintritts geldern eine Einnahme von 9675700046, wovon annähernd ein Drittel, sagen wir rund 30 Millionen, von den Arbeitgebern aufgebracht wurde. In dem selben Jahre hatten die Invaliditäts- und Altersver sicherungen an Beitragsgeldern eine Einnahme von 88 887 000 6, wozu die Arbeitgeber die Hälfte, also über 44 Millionen, beizusteuern hatten. Rechnet man diesen Beträgen die bekanntlich von den Arbeitgebern allein aufzubringenden Kosten der Unfallversicherung hinzu, so ergiebt sich, dafs den deutschen Erwerbsständen im Jahre 1891 allein durch die drei grofsen Arbeiterversicherungsgesetze ein Aufwand von mindestens 120 Millionen ver ursacht worden ist. Aber alles das scheint auch für den Minister a. D. und Doctor der Staatswissenschaften Schäffle nur ein »Butterbrot“ — so lautet’s ja im socialdemo kratischen Jargon — zu sein, an dessen Stelle nun mit Gewalt ein ganzes Miltagsessen gesetzt werden mufs. Ob wir dabei noch wirksam auf dem Weltmärkte mit den Ländern concurriren können, die solche Lasten nicht kennen, was stört das den Doctor der Staatswissenschaften, aus dessen Leder die Riemen — in diesem Falle die Kosten der Arbeiterversicherung — ja nicht geschnitten werden, der an die aus einem Auf hören der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands auf dem Weltmärkte für die deutschen Arbeiter und ihre Familien entstehenden Folgen nicht zu denken scheint. Wenn nur weiter in Socialpolitik ge macht werden kann, das ist und bleibt die Hauptsache. Dafs schon heute die Goncurrenz des Aus landes dem deutschen Markte erheblichen Ab bruch thut, weil Deutschlands Werke infolge der socialpolitischen Belastung die Auslandspreise nicht noch unterbieten können, ist eine so be kannte Thatsache, dafs sie auch Hr. Dr. Schäffle wissen müfste. Um ihn an die Gründe zu er innern, aus denen die Ausländer billiger arbeiten können als wir, rufen wir ihm nur die jüngste Vergebung von 150 Waggons seitens der Hes sischen Ludwigsbahn nach Belgien ins Gedächtnifs, bei der ein belgisches Werk die Lieferung erhielt, weil es um 26 •6 pro Waggon billiger als die deutschen Werke war. Nun zahlte das leistungs fähigste Werk Belgiens, John Cockerill in Seraing, nach dem officiellen Rechenschaftsbericht vom 26. October 1892 seinen 9235 Arbeitern im Durchschnitt einen Jahreslohn von 845,40 16. Dagegen erhielten auf einem der gröfsten deutschen Eisen- und Stahlwerke die Arbeiter in demselben Geschäftsjahre einen Durchschnittslohn von 1148,56 6, also rund 35 % mehr als ihre belgischen Genossen. An gesetzlichen Ver sicherungsbeiträgen hatte das deutsche Werk 427 047,66 •6 zu zahlen, das belgische Werk — nichts. An freiwilligen Wohlfahrtseinrichtungen (Pensionen und Unterstützungen) zahlte das bel gische Werk 216 943 •6 — andere belgische Werke zahlen nach dieser Richtung hin bedeu tend weniger oder nichts — das deutsche Werk für dieselben Zwecke (ohne Berücksichtigung seiner Industrieschulen, Krankenhäuser und Ar beiterwohnungen) freiwillig 384 878,37 •46. Es entfielen also bei dem belgischen Werk 23,49 •6, bei dem deutschen 51,34 •6 auf den Kopf des Arbeiters. Dafs unter solchen Umständen Belgien einen Waggon um 26 •6 billiger liefern kann, liegt doch auf der Hand. Diese Zahlen, die im wesentlichen für die gesammte deutsche Eisen- und Stahlindustrie zutreffen, sprechen für sich selbst. Wenn die deutschen Werke dauernd in der Lage bleiben sollen, die beständig steigenden Lasten der social politischen Gesetzgebung zu tragen und daneben ihre Wohlfahrtseinrichtungen in der bisherigen Weise zu erhalten, darf vor der Hand von weiteren socialpolitischen Projecten nicht die Rede sein, darf die deutsche Industrie nicht fortgesetzt durch die Pläne der Herren beunruhigt werden, die sich am grünen Tisch der Studir- stube, fernab von den Stätten der praktischen Arbeit, ohne Rücksicht auf die Möglichkeit des Fortbestehens der letzteren, einen socialpolitischen Himmel zurechtzimmern, in den schliefslich der Arbeiter am allerwenigsten dann hineinkommt, wenn man durch solche Beunruhigungen der heimischen Arbeit den Lebensfaden unterbindet; denn darüber kann doch wohl kein Zweifel sein, dafs auch die beste socialpolitische Gesetzgebung dem Arbeiter nicht helfen kann, wenn er keine Arbeit mehr hat. Die deutsche Industrie ver langt in erster Linie Ruhe und wünscht, dafs nicht fernerhin auf die Stimmen von Männern Rücksicht genommen werde, welche solche „Kern- und Zeitfragen“, wie sie die Frage der Möglich keit des Wettbewerbs der unter einer Unsumme noch sonst ungünstiger Factoren, wie die weiten Entfernungen zwischen der Ablagerung der Schätze des Erdinnern, hoher Eisenbahntarif, Mangel an Wasserstrafsen, leidenden deutschen Industrie auf dem Weltmärkte, nicht zu kennen