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August 1892. STAHL UND EISEN.“ Nr. 15. 701 nur dann erreichen, wenn sie den Streik plötzlich ohne vorherige Kündigung ins Werk setzten; der Wortbruch wird nicht nur als be rechtigt, sondern als Pflicht der Selbsterhaltung und als „Act der Bruderliebe“, wie in einer Streikversammlung erklärt worden ist, bezeichnet. Aber nicht blofs berufsmäfsige Hetzer machen dem Arbeiter den Wortbruch plausibel. Wenn der Arbeiter, dem gegenüber der Arbeitgeber stets den Vertrag gehalten und den er vielleicht in schlechter Zeit mit eigenem Schaden weiter beschäftigt bat, bei günstiger Gelegenheit, also etwa in guten Zeiten, in denen allenthalben Arbeiter der betreffenden Kategorie gesucht werden, und der zu Lieferungen verpflichtete Arbeitgeber durch plötzlichen Weggang seiner Arbeiter in grofse Verlegenheit geräth, anderweitig mehr ver dienen kann und deshalb die Kündigungsfrist nicht innehält, so liegt für ihn nach der Normal arbeitsordnung des Linksrheinischen Vereins für Gemeinwohl* * * § ein Entschuldigungsgrund vor, „dem * Die betreffende Stelle der öfter angeführten Arbeitsordnung — die anderweitig z. B. bezüglich der Arbeit verheiratheter Frauen S. 35 ff. treffende Aus führungen enthält —, verdient hier etwas niedriger gehängt zu werden; sie lautet S. 43, 44: „Wir betrachten die Kündigungsfrist mehr als eine Mafsnahme zum Schutz der Arbeiter, wie um gekehrt — Ausnahmen abgerechnet und es giebt auch Fabriken (z. B. die Schultheifssche Brauerei- Actien-Gesellschaft in Berlin unter der Direction des Herrn Gommerzienraths Roesicke), die direct dem Ausdruck geben, indem den älteren Arbeitern ein Anspruch auf Kündigungsfrist selbst bis zu vier Wochen eingeräumt wird, während sie selbst keine Kündigungsfrist beanspruchen. Jedenfalls sollte der Arbeitgeber sich nicht kleinlich rächen (durch wirkliche Einbehaltung des verfallenen Lohnes), sobald der Arbeiter sich entschuldigt und einen Entschuldigungsgrund vorbringt, dem eine gewisse Berechtigung nicht zu versagen ist. Ein solcher Grund liegt z. B. dann vor, wenn dem Arbeiter sich gerade eine Stelle bietet, in welcher er wesent lich mehr verdient. In der That, welche Genug- thuung könnte es da für den Arbeitgeber sein, wenn ein Arbeiter, der ihm doch treu gedient hat, wegen der paar Tage Kündigungsfrist chicanirt? Anders ist es, wenn der Arbeiter ohne ein Wort der Entschuldigung einfach von der Arbeit weg- bleibt und anderwärts eintritt; da mag eine Conventional-„Strafe“ bis zu einem Tagesverdienst durchaus gerechtfertigt sein. Für diesen Fall genügt es, wenn in § 15 Abs. 2 angefügt wird: »Bringt er auch nachträglich keinen genügenden Entschul digungsgrund bei, so ist der Betrag eines durch schnittlichen Tages-Arbeitsverdienstes vom rück ständigen Lohne zu gunsten der Krankenkasse (Arbeiterkasse, Familien-Krankenkasse) verwirkt.«“ Nebenbei bemerkt, der Herausgeber hätte wissen müssen, dafs die hier so gerühmte Bestimmung der Schultheifsschen Brauerei ungesetzlich ist, da nach § 122 der Gewerbeordnung die Kündigungsfrist für beide Theile gleich sein mufs. Auferdem würde sie in den Augen der Arbeiter solcher Werke, welche ordentliche ältere Arbeiter stets und namentlich, wenn Entlassungen wegen Arbeitsmangel nothwendig werden, mit besonderer Rücksicht behandeln (und die Zahl dieser Werke ist glücklicherweise sehr grofs), eine gewisse Berechtigung nicht zu versagen ist.“ Nur wenn der Arbeiter ohne ein Wort der Ent schuldigung einfach von der Arbeit ausbleibt und anderwärts eintritt und sich auch nach träglich nicht entschuldigt, soll eine Conventional- strafe bis zu einem Tagesverdienst gerechtfertigt sein, dagegen soll auch dann „eine wirkliche Einbehaltung des verfallenen Lohnes“ nicht richtig sein, vielmehr wird sie, wenn auch die gesetzliche Zulässigkeit anerkannt wird, als „kleinliche Rache“ und „Chicane" des Arbeit gebers bezeichnet 1 Eine solche Beschönigung des Wortbruchs, der beim Arbeiter entschuld bar und gewissermafsen berechtigt sein soll, sobald er ihm Vortheil bringt, eine solche Ver hetzung gegen den Arbeitgeber, der bei Ein behaltung des verwirkten Lohnes nicht nur von einem ihm gesetzlich zustehenden Recht Gebrauch macht, sondern geradezu eine Pflicht erfüllt, da er in seiner verantwortungsvollen Stellung die I Ordnung aufrecht zu erhalten hat, geht von einem Manne aus, der bei einer grofsen politisch religiösen Partei auf socialpolitischem Gebiet als erste Autorität gilt und auf einen grofsen Theil der Arbeiter, auf die katholischen, um so gröfseren Einflufs ausübt, weil er zugleich Geistlicher ist. Freilich ist die von dem Reichstagsabgeordneten i Hitze herausgegebene Normalarbeitsordnung nicht für Arbeiter, sondern für Arbeitgeber bestimmt; aber es ist schon dafür gesorgt, dafs seine An sichten durch die Presse der Partei oder durch katholische Arbeitervereine genügend verbreitet werden, namentlich dann, wenn sie als arbeiter freundlich gelten, während ein ernstes Wort, welches derselbe Mann im Jahre 1889 den Muth gefunden hat, an die Bergarbeiter zu richten, als zu unbequem im Kohlenrevier in einem Theile jener Presse entweder gar nicht berück sichtigt oder doch möglichst nebensächlich be handelt worden ist. Weit mehr aber kommt hier, wo es sich um den Werth des vom Arbeiter bei Abschlufs des Arbeitsvertrages gegebenen Worts handelt, das Ergebnifs in Betracht, zu welchem die Ver handlungen über § 153 des Entwurfs der Gewerbe ordnung geführt haben. In den Motiven zu diesem Paragraphen hat die Staatsregierung in ziemlich werthlos sein; ein älterer Arbeiter nimmt so leicht nicht seine Entlassung, schon deshalb nicht, weil er anderwärts nicht so leicht angenommen wird; wenn er sie aber, und zwar sofort, verlangt, so wird ihm schon deshalb schwerlich etwas in den Weg I gelegt werden, weil er die Kranken- und etwaige sonstige Kassen mit einem gröfseren Risiko belastet, als ein an seine Stelle tretender junger Arbeiter. In der genannten Normalarbeitsordnung ist übrigens der vorstehend abgedruckte Passus nicht als ein solcher 1 bezeichnet, welcher die ausdrückliche Genehmigung des „Linksrheinischen Vereins für Gemeinwohl“ ge- | funden hat, gehört also zu denjenigen Erläuterungen, ■ für welche der Reichstagsabgeordnete Hitze nach I seinem Vorwort allein die Verantwortung hat.