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700 Nr. 15. STAHL UND EISEN. August 1892. einer Eingewöhnung von wenigen Tagen gern die Kündigung zurücknimmt, oder dafs bei Mifshelligkeit zwischen Meister und Arbeiter, mag nun der eine oder andere Theil zu hitzig vor gegangen sein, die Kündigungsfrist Zeit zur Ueberlegung und zum friedlichen Auslrag giebt. — Vor Allem aber wird durch die Vereinbarung einer Kündigungsfrist das Arbeitsverhältnifs ein festeres und ständigeres, es darf wohl gesagt werden: ein sittlich höher stehendes. Im Inter esse der Arbeitgeber sowohl als der Arbeiter liegt es, dafs ihre gemeinsame Arbeit eine ständige und möglichst lange dauernde ist. Ein Arbeitsvertrag ist eine sehr ernste Sache. Der Arbeiter übernimmt freiwillig die Verpflichtung, in Zukunft nach dem Willen eines Anderen zu arbeiten und sich bei dieser Arbeit einer Disci- plin zu unterwerfen, die je nach Umständen eine ebenso straffe sein mufs als beim Militär; er begiebt sich auch des Rechts, zu beliebiger Zeit von dieser Arbeit zurückzutreten, sondern er verpflichtet sich, die Arbeit in jedem Falle so lange fortzusetzen, bis die für eine etwaige Kündigung ausbedungene Frist abgelaufen ist, ohne Rücksicht darauf, ob etwa die Anforderungen, welche mit der übernommenen Arbeit verbunden sind, unbequem und lästig werden und ob etwa dem Arbeiter eine Gelegenheit entgeht, ander weitig eine ihm mehr zusagende oder besser lohnende Arbeit zu erhalten. Umgekehrt ver pflichtet sich der Arbeitgeber nicht nur, für die geleistete Arbeit den ausbedungenen Lohn zu zahlen, sondern auch er ist an die Kündigungs frist gehalten; der Arbeiter hat für die Dauer derselben, soweit das Werk Arbeit hat, Anspruch auf Beschäftigung beziehungsweise Lohnzahlung; er ist nicht der Gefahr ausgesetzt, von einem Augenblick zum andern arbeitslos zu werden, sondern hat, auch wenn er die Abkehr nimmt oder entlassen wird, immer eine gewisse Zeit, um sich anderweit nach Arbeit umzusehen. Die Innehaltung des Vertrages von beiden Seiten wird durch ein feierlich gegebenes Wort, in der Regel sogar durch namensunterschriftliche Anerkennung gewährleistet. Zu dieser Garantie kommt dann noch, dafs vertragsmäfsig ein nicht unbeträcht licher Schadenersatz beziehungsweise eine Gonven- lionalstrafe für den Fall der widerrechtlichen Lösung des Gontracts festgestellt werden kann. Durch die Kündigungsfrist wird allerdings ein Streik nicht absolut verhindert; da der Arbeitsvertrag ein freier ist, kann der Arbeiter von demselben zu der vereinbarten Frist zurücktreten, und es steht ihm dann vollständig frei, allein oder ge meinsam mit anderen früheren Arbeitern des betreffenden Werks eine Zeitlang zu feiern, d. h. zu streiken, wenn er glaubt, dadurch günstigere Arbeitsbedingungen zu erlangen. Aber durch die Kündigungsfrist wird der Arbeitgeber gegen eine plötzliche Einstellung der Arbeit ge sichert, und wenn die ganze Arbeiterschaft oder ein grofser Theil derselben von dem ihr zu stehenden Recht Gebrauch macht und gleichzeitig kündigt, hat der Arbeitgeber Zeit, die nöthigen Mafsregeln zu treffen, und in vielen Fällen wird es gelingen, während der Kündigungsfrist die ganze streitige Frage beizulegen; thatsächlich trägt also die Kündigungsfrist dazu bei, den Streik seltener zu machen; selbst wenn ein Streik unter Contractbruch begonnen würde, hätte der Arbeitgeber doch noch den grofsen Vortheil für sich, dafs die öffentliche Meinung von vornherein auf seiner Seite stände oder wenigstens stehen sollte. Für Beibehaltung der Kündigungsfrist werden somit sehr gewichtige Gründe geltend gemacht, es fragt sich nur, ob diese Gründe auch stich haltig sind. Zunächst kann von einer „Ruhe“ in den Arbeiterverhältnissen heutigen Tages kaum die Rede sein, es ist seit längeren Jahren stark genug daran gerüttelt worden, dafür sorgt schon die sich überstürzende Gesetzgebung. Die Arbeiter frage steht allgemein auf der Tagesordnung und wird von berufener und noch mehr von unbe rufener Seite bearbeitet. Eine Art Verwirrung ist geradezu grofsgezogen , und auch bei solchen, die kraft ihrer Stellung im öffentlichen Leben ein Urtheil mitabzugeben haben, herrscht vielfach Unklarheit über die einfachsten Dinge beim Arbeitsverhältnifs. Gerade bei diesem aber ist Klarheit über Rechte und Pflichten dringend nothwendig, und diese Klarheit ist bei der heutigen Sachlage, wenigstens soweit streitige Fälle den Gswerbegerichten vorgelegt werden, jedenfalls dann eine gröfsere, wenn ohne Kündigungsfrist gearbeitet wird. Wo eine solche besteht, soll ihre Innehaltung hauptsächlich durch das von beiden Theilen gegebene feierliche Wort gewähr leistet sein. Nun ist bereits erwähnt, dafs der Arbeiter sehr häufig von seinem Wort ent bunden wird; oft genug geschieht das, wenn es mit den Interessen des betreffenden Werks ver einbar ist, um ihm zum Weiterkommen behülf- lich zu sein; in vielen anderen Fällen aber wird die sofortige Entlassung nur deshalb gewährt, weil vorauszusehen ist, dafs der Arbeiter, wenn er zurückgehalten wird, doch nichts mehr leisten, also nur der Form nach sein Wort halten würde. Aber ganz abgesehen hiervon haben die Ereig nisse der letzten Jahre doch das Vertrauen auf das Wort der Arbeiter ganz gewaltig erschüttert. Nach den Motiven zu § 153 des Regierungs- Entwurfs zur Gewerbeordnungsnovelle hat die Zahl der Fälle, in welcher unter Gontract- bruch ein Streik begonnen wurde, in er schreckender Weise zugenommen ; auf zahlreichen Werken hat kein einziger Arbeiter sein Wort gehalten. Die Leute werden belehrt, sie könnten ihren gemeinschaftlichen Zweck, durch einen Streik bessere Arbeitsbedingungen zu erzwingen,