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386 Nr. 8. „STAHL UN der socialpolitischen Gesetzgebung niemals feindlich gegenübergestanden, sondern derselben ihre positive Mitarbeit geliehen habe, wie sie denn auch schon zu einer Zeit in umfassender Weise auf dem Gebiete socialer Einrichtungen aufs kräftigste thätig gewesen sei, als der Staat noch gar nicht daran dachte, dieses Gebiet zu pflegen. Wenn man von industrieller Seite bei dieser Mitarbeit in eine Kritik der verschiedenen Gesetzentwürfe eingetreten sei und die letzteren nicht blindlings gutgeheifsen habe, so sei damit nur ein gutes Recht und eine patriotische Pflicht ausgeübt worden. Die Industriellen ständen durchaus auf dem Boden gegebener Gesetze, aber sie könnten sich nicht zu einer Denkungsweise erniedrigen, welche den Ver fassern von Gesetzentwürfen eine Unfehlbarkeit zu gestehe, vor der jede Kritik ohne weiteres die Segel zu streichen hätte. Soweit werde man doch im Staate Friedrichs des Grofsen noch nicht gekommen sein, dafs Jeder, der es in der guten Absicht, dem Vater lande zu dienen und Unheil von ihm abzuwenden, wage, seine Stimme gegen unvollkommene und unter Umständen gefahrbringende Gesetzentwürfe zu er heben, nun des Vaterlandes unwerth wäre und ihm den Rücken kehren müfste. Redner legt sodann dar, dafs das Jahr 1891 in wirthschaftlicher Beziehung ein sehr trauriges war, dafs die bereits gegen Ende 1890 eingetretene Depression weitere Fortschritte machte und zumal in der Textil industrie zu einer solchen Geltung kam, dafs man gleich schlechte Zeiten im Stoffgewerbe erlebt zu haben sich nicht erinnert. Die Gründe hierfür sind sehr, mannig faltiger Natur, wie der Redner an den Wirkungen der Mac Kinley-Bill, den Sondervertragsbestrebungen der Vereinigten Staaten mit den südamerikanischen Repu bliken, dem Zusammenbruch der argentinischen Finanzen, dem Bürgerkrieg in Chile, den politischen Wirren in Brasilien und der finanziellen Bedrängnifs in Portugal und Spanien des Näheren nachweist. Aber alle diese Momente — so führt er weiter aus — hätten nicht so lähmend auf die Geschäftsthätigkeit bei uns gewirkt, wenn nicht als ein weiterer Factor das Gefühl der Unsicherheit die weitesten Kreise unseres eigenen Landes ergriffen und beherrscht hätte. Dieses Unsicherheitsgefühl sei nicht künstlich gemacht, sondern der Grund liege vor Allem in der Thatsache, dafs bei der sich überstürzenden Gesetz gebung unserer Tage Handel und Industrie keinen Augenblick sicher seien, ob nicht über Nacht der Plan zu einem neuen Gesetze reife, das abermals neue Lasten auferlege, durch die schliefslich der Wettbewerb anderen Ländern gegenüber in Frage gestellt werden müsse. Hinzu komme, dafs die Staatsregierung bei derßerathung mancher Gesetzentwürfe den der Industrie feindlich gesinnten Parteien gegenüber diejenige Festig keit im Parlament vermissen lasse, welche als das Minimum dessen angesehen werden müsse, was die Industrie verlangen könne. Redner weist dies unter Anderm an dem Verhalten der Regierung bei dem § 153 der Gewerbeordnungsnovelle nach. Derselbe Minister, welcher in der zweiten Lesung die Noth wendigkeit dieses gegen die Aufwiegler zu Arbeitsaus ständen u. s. w. gerichteten Paragraphen aufs ein gehendste dargelegt hatte, habe den § 153 bei der dritten Lesung geopfert und nunmehr der Industrie überlassen, ohne diesen einzigen Schutzparagraphen, den der Gesetzentwurf enthielt, auszukommen. Ist es denn da, meint Redner, ein Wunder, wenn das Gefühl der Beunruhigung die industriellen Kreise be schleicht? Redner giebt nunmehr ein umfassendes Bild des gegenwärtigen Standes der Socialpolitik und bespricht nach einem kurzen Ueberblick über die Krankenkassengesetznovelle die Unfallversicherung, auf die in den fünf Jahren ihres Bestehens das deutsche Gewerbe nicht weniger als 117,6 Millionen Mark ver wandt hat. Davon kamen den Versicherten bezw. D EISEN.“ April 1892. deren Hinterbliebenen unmittelbar 42 Millionen Mark zu gute; die Unfallverhütung erforderte einen Kosten aufwand von 1,4 Millionen Mark, die laufende Ver waltung 15,9 Millionen Mark. In den Reservefonds der Berufsgenossenschaften ruhten Ende 1890 nicht weniger als 55,3 Millionen Mark. Mit Recht meint Redner, dafs solchen Zahlen gegenüber die Meinung verstummen müsse, dafs für den Arbeiter aus der gegenwärtigen Gesetzgebung »nur ein Butterbrot« herauskomme. Vor allen Dingen sollten solche Zahlen mehr von unseren nationalökonomischen Theoretikern beachtet werden,welche die Arbeiterverhältnisse anderer Länder, namentlich Englands, in den Himmel erheben, ohne dabei zu bedenken, dafs in denselben auch nicht annähernd Gleiches geschieht wie bei uns, wie denn in England der Arbeiter durchaus auf private Ver sicherung, die er ganz und gar aus eigener Tasche bezahlen mufs, angewiesen ist. Redner bespricht so dann die starke Zunahme der Unfälle, welche bei einer Revision des Unfallgesetzes zur Klärung der Frage der Verschiedenheit der Entschädigung für die durch eigene Leichtfertigkeit und die durch Betriebs gefahren verursachten Unfälle führen müsse. Er legt ferner die aus Zahlung vieler kleiner Rentenbeträge erwachsenden Unzuträglichkeiten dar und regt die Frage an, ob solche Renten nicht besser durch Kapital abfindung aus der Welt geschafft würden. Er weist endlich darauf hin, dafs es wünschenswerth erscheine, im Auslande die Vortheile unserer Versicherungs- gesetzgebung immer mehr bekannt zu machen. Bei der Alters- und Invalidenversicherung sind bisher 132917 Ansprüche anerkannt, was 16 625 000 • einschliefslich des Reichszuschusses ausmache. Doch sei das Gesetz unpopulär, hauptsächlich, weil die von der Industrie seiner Zeit gemachten Vorschläge nicht angenommen seien. In der Berggesetzgebung sei die gröfsere Competenz, die den staatlichen Auf sichtsbeamten gegeben werde, um die sociale Frage durch strenge staatliche Aufsicht zu lösen, von sehr grofsen Bedenken begleitet. Wenn auf die Denkschrift über den Streik von 1889 hingewiesen sei, so könne man dem den jüngsten englischen Streik und die Aus stände in Frankreich und Belgien entgegenhalten. Deshalb seien wohl nicht örtliche und persönliche Verhältnisse, sondern die Natur des Bergbaues und der Bergleute, sowie die Zeitläufte schuld, und die Ver schärfung der Staatsaufsicht könne hier eher schaden, als nützen. Bezüglich des Einkommensteuer gesetzes sei nur zu wünschen, dafs nicht bei den unteren Behörden eine bureaukratische Schärfe, wie sie die Ausführungsbestimmungen des Finanzministers Miquel nicht wollen, Platz greife. Charakteristisch sei, dafs die gröfsten Unterschätzungen bei der Land- wirthschaft hervorgetreten seien. Kurz erwähnt Redner das neue Zuckersteuergesetz und die Handels verträge, sowie den Sondervertrag derVer- einigten Staaten mit Brasilien. Es scheine, als wolle man dir Gefahr des letzteren durch Be- schickungderWeltausstellunginChicago bannen. Demgegenüber sei festzustellen, dafs der Verein am 2. März v. J., zwei Monate vor An nahme der Einladung seitens der Regierung, erklärt habe, dafs an eine Beschickung nicht zu denken sei. Die Zeit der Weltausstellungen sei vorüber, dies werde auch in England anerkannt, das sich an Chicago nur in geringem Mafse betheilige. Vorläufig habe sich der Verein auch auf dem Handelstage gegen eine Weltausstellung in Berlin ausgesprochen. Mit dem Vorwurfe, die Betheiligung an derartigen Aus stellungen sei eine patriotische Pflicht, solle man doch spärlicher umgehen. Oft sei gesagt, Arbeiter lesen auch Zeitungen und es könne das Verhältnifs zwischen Arbeitgeber und Arbeiter nicht fördern, wenn man die Arbeitgeber wegen der wohlerwogenen Zurück haltung unpatriotisch nennt. (Sehr richtig.) Redner