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366 Nr. 8. STAHL UND EISEN. April 1892. Fälle die Belastung derart langsam, dafs den Trägern und Brücken reichliche Zeit für die Ordnung ihres Widerstandes, für die Herstellung ihrer Festigkeit, gegönnt ist und alle statischen Voraussetzungen zutreffen; aber für gewisse Fälle, z. B. schnell befahrene Eisenbahnbrücken, ist es wohl denkbar, dafs es hierzu der Zeit ermangelt. Denken wir uns, auf einer Brücke fahre eine Locomotive, deren Räder je durch eine Last Q belastet seien, während die in diesen Rädern untergebrachten Gegengewichte die freie Flieh kraft F äufsern, so wird jedes Rad abwechslungs weise mit dem Gesammtdruck (Q — F) und (QHF) auf der Brücke lasten, je nachdem das Gegengewicht eben nach aufwärts oder, eine halbe Radumdrehung später, nach abwärts zielt. Bei einer gewissen Geschwindigkeit, die nicht gar zu grofs zu sein braucht, kann es dabei vorkommen, dafs F—Q wird, und örtlich das Rad sich geradezu von seiner Unterlage loshebt.“ Radinger führt dann weiter aus, dafs bei einer gewissen noch gesteigerten Geschwindigkeit die Brücke zusammenbrechen müsse, weil ihr nicht die Zeit gegönnt würde, die Widerstands kraft ihrer einzelnen Theile zu ordnen. Es würde ihr gerade so ergehen, wie einem mäch tigen Staate, an dessen Grenzen ein Feind ein bricht und ihn zu Falle bringt, ehe die rings im Lande und an den gegenüberliegenden Marken verlheilten Streitkräfte sich zu vereinigen und gemeinsam zu widerstreiten vermögen. Bei sehr weitgespannten Brücken müsse übrigens der Auf lagerdruck am andern Ende geweckt werden und herüberwirken, ehe der Balken anders als frei tragend beansprucht erscheinen könne. Derartige Ausnahme-Erscheinungen, müssen nach diesseitiger Ansicht durch reichliche Be messung des Sicherheitsgrades der Construction berücksichtigt werden. Ob die bis jetzt gebräuch liche 4- bis 6 fache Sicherheit ausreicht, kann fraglich erscheinen. Wie oben bereits erörtert, liegt nach den bisherigen 50 jährigen Erfahrungen kein besonderer Grund vor, daran zu zweifeln. Was die Schwingungen der Brücken an belangt, so ist bekannt, dafs sie rasch zunehmen, wenn in einem gleichen Zeitabschnitte der zu ihrer Hervorbringung nöthige Belastungsanstofs (Schritt eines Fufsgängers, Hufschlag eines Pferdes, Stofs einer Wagenachse) genau in der Zeitdauer einer Schwingung sich wiederholt.* Ferner ist jeder Eisenbahnbrücke eine gewisse gefährliche Geschwindigkeit hinsichtlich des Entstehens von Schwingungen eigenthümlich, die — wie schon 1883 Prof. Robinson in einem Berichte an die Ohio-Eisenbahn-Commission durch eine Reihe von Beobachtungen und Berechnungen dargelegt hat — * Vergl. auch Föppel, Ueber die Quersteifigkeit eiserner Brücken und über verwandte Fragen der Fachwerkslehre. »Civiling.« 1892, Heft 1, Seite 55. bei Brücken von 30 bis 60 m Spannweite etwa den Personenzügen, bei solchen von 60 bis 80 m den Lastzügen unter bestimmten Voraussetzungen entspricht.* Wenn aber Prof. Steiner meint, dafs man gut thun würde, die Eisenbahnbrücken mit den verschiedensten Geschwindigkeiten und verschiedenen Locomotivarten befahren zu lassen, um jene ungünstige Geschwindigkeit zu finden, welche es für jede Brücke und jede Locomotive nach den von ihm entwickelten Grundformeln schwingender Brücken gebe, es müsse dann leicht sein, gerade diese Geschwindigkeit zu vermeiden, so scheint das etwäs zu weit gegangen zu sein. Die Brückenbauart dürfte sich doch wohl nach der Art des Betriebs zu richten haben und nicht umgekehrt. In einer langen Betriebsstrecke mit vielen kleinen eisernen Brücken mufs jede von ihnen ohne Gefahr mit der Geschwindigkeit be fahren werden können, die der Betrieb erfordert, ganz gleich ob Schnell- oder Güterzüge fahren. Der Bau hat dafür zu sorgen, dafs die Brücke derartige Anforderungen mit genügender Sicher heit erfüllen kann, und es dürfte nach den wieder holt erwähnten 50jährigen Erfahrungen im Eisen brückenbau auch kein Grund vorliegen, an der Möglichkeit, dies zu erreichen, zu zweifeln. Wenn man auf grofsen, weitgespannten Brücken die Geschwindigkeit der Züge auf 30 bis 40 km in der Stunde ermäfsigt, so thut man dies erfahrungs- gemäfs keineswegs, weil man bei grofser Ge schwindigkeit der Fahrt für den Bestand der Brücke fürchtet, sondern weil man die Folgen einer möglichen Entgleisung auf der Brücke ein tretenden Falls zu mildern suchen will. Der hohe wissenschaftliche Werth von Untersuchungen über dynamische Einwirkungen der Verkehrslasten auf Eisenconstructionen bleibt dabei unbestritten, nur dürfte es nach dem heutigen Stande dieser Wissenschaft und im Hinblick auf die bisherigen Erfahrungen über die Haltbarkeit eiserner Brucken im Betriebe noch nicht an der Zeit sein, die dynamischen Einflüsse anders in die Rechnung einzubeziehen, als es bisher geschehen ist, nämlich durch Einführung eines erfahrungsmäfsig aus reichenden Sicherheitsgrades gegen Bruch, so unwissenschaftlich ein derartiges Rechnungs verfahren auch erscheint. 11. Prof. Steiner bedauert, dafs den böhmischen Werken nicht Gelegenheit geboten war, an den bekannten, vom Oesterreichischen Ingenieur- und Architekten-Verein unternommenen vergleichenden Untersuchungen von Martin- und Thomasflufseisen** officiell theilzunehmen, obwohl die böhmische Eisenindustrie nahezu 1/s des Gesammtmarktes Oesterreichs beherrscht. * Scientific American Supplement 1883, Bd. XV, Nr. 381, S. 6071 und Nr. 389, S. 6201. ** Vergl. »Stahl und Eisen« 1891, Seite 899.