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i Ein Beitrag zum Kapitel der Simulation. Der a. o. Professor der Chirurgie an der Universität Bonn, Hr. Dr. 0. Witzel, hat in einem als Manuscript gedruckten Bericht an die Vorstände der am Bonner Reconvalescentenhause betheiligten Berufsgenossenschaften über seine Erfahrungen in der Behandlung Unfallverletzter sehr interessante Mittheilungen gemacht, mit denen der Specialarzt für Nervenkrankheiten, Hr. Prof. L. Fuchs, ebenfalls auf Grund des in der genannten Anstalt gewonnenen Beobachtungs- materials sein volles Einverständnifs erklärt hat. Mit Genehmigung des hochgeschätzten Herrn Ver fassers sind wir in der Lage, aus dem genannten Berichte an dieser Stelle Folgendes mitzutheilen: „Die Schwierigkeiten, mit denen die Be- urtheilung und Behandlung Unfallverletzter zu kämpfen hat, lassen sich nur dann richtig ver stehen und würdigen, wenn man die Vorgänge verfolgt, welche zwischen dem Tage der Verletzung und demjenigen der Uebernahme durch die Berufs genossenschaft liegen. Die Zahl der Arbeiter, welche ich in meiner klinischen und poliklinischen Thätigkeit unmittel bar oder kurz nach der Verletzung sah, berechnet sich nach Tausenden; ich erinnere mich keines Falles, in dem der Verletzte nicht zunächst den dringenden Wunsch gehabt hätte, möglichst bald und möglichst vollkommen wieder hergestellt zu werden. Der Verletzte ist in den ersten Wochen zu Allem willig, sofern er sich nur freundlich und sorgfältig behandelt sieht. Mit Leichtigkeit ist er zu bewegen, thätig zu sein, sobald ärzt licherseits dazu gerathen werden kann. Es würde zweifellos eine sehr grofse Zahl von Entschä digungsansprüchen an die Genossenschaften gar nicht herantreten, wenn von den behandelnden Aerzten von vornherein in systematischer Weise danach gestrebt würde, die Unlust zur Arbeit nicht aufkommen zu lassen. Ich habe Leute mit Handverletzungen, die zur Amputation eines oder mehrerer Finger geführt hatten, schon nach Ablauf der ersten Woche veranlafst, ihre Berufsthätigkeit, soweit dies möglich war, wieder aufzunehmen mit noch verbundenen Fingern. Sie waren zu ihrer eigenen Ueberraschung lange vor Ablauf der 13 Wochen imstande, als Maschinisten, als Weber u. s. w. wieder vollkommen wie früher zu arbeiten; gerne habe ich ihnen die volle Arbeits fähigkeit auch für die Arbeitgeber attestirt. Siebt dagegen der Verletzte seinen Arzt nach Ablauf der ersten Wochen nur von Zeit zu Zeit, um sich den Krankenschein ausstellen zu lassen, dann zeitigt das Nichtsthun die Hoffnung und den Anspruch auf möglichst hohe und dauernde Rente. Es mag begreiflich erscheinen, wenn die zurückgebliebenen mäfsigen Störungen das Inter esse des Arztes nicht in so hohem Mafse fesseln als die frische Verletzung, bei der es galt, durch chirurgisches Können die Folgen möglichst günstig zu gestalten. Viel Ruhm ist bei der späteren Nachbehand lung vielfach nicht zu ernten, und dennoch ist dieselbe für die künftige Arbeitsfähigkeit zumeist von gröfserer Bedeutung als das erste Eingreifen. Wir haben es mehr oder weniger alle an uns selbst erfahren, dafs der Wiedergebrauch verletzter Theile zunächst unbequem und schmerz haft ist. Der Verletzte, welcher einen Knochen bruch erlitt, läfst sich jedoch gleich nach der Abnahme des feststellenden Verbandes die in zwischen etwas versteiften Nachbargelenke be wegen und übt dieselben willig der Anordnung gemäfs. Verflossen nach der Verbandabnahme einige Wochen vor Einleitung der Bewegungskur, dann stöfst die letztere auf den allergröfsten Widerstand, besonders wenn inzwischen in dem Verletzten der Entschlufs gereift ist, die Beweg lichkeitsbeschränkung behufs Erlangung einer Rente möglichst zu conserviren ; es heifst dann : „Ich habe genug gelitten und lasse mich nicht mehr quälen.“ Der Gegensatz zwischen Verletztem und Arzt ist da und ist kaum durch die wohl wollendste Behandlung mehr zu beseitigen. Aehn- liches geschieht unendlich oft auch bei anderen Verletzungsarten. Es ist aufserordentlich leicht zu begreifen, dafs gelegentlich unter solchen Umständen das bei der Uebernahme durch die Berufsgenossen schaft ausgestellte ärztliche Gutachten den that- sächlichen Verhältnissen nicht entspricht. Als simulirt werden Erscheinungen bezeichnet, die, wirklich, bestehend, Folgen der Verschleppung sind; der Verletzte übertreibt in der Voraus setzung, dafs der Arzt ihm doch nicht Alles glaube. So kommen gerade in dem für die weitere Zukunft so hochwichtigen Momente Arztberichte zustande, welche einigermafsen die Verwunderung erregen müssen. — Aber auch andere Umstände treten zuweilen hinzu, um die betreffende Bericht erstattung nicht nur werthlos, sondern verderb lich zu machen. Der Arzt weifs sich nicht davor geschützt, dafs eventuell sein Gutachten dem Arbeiter oder seinem Rechtsvertreter kund wird; er mufs mithin auf Mifshelligkeiten, auf Agitation gegen seine Stellung als Kassenarzt gefafst sein, sobald er ungerechtfertigten Ansprüchen in ge bührender Weise entgegentritt. — Aufser diesen der Unfreiheit des Urtheils entspringenden Fehlern des ärztlichen Berichtes kommen solche vor, die durch falsch angebrachtes Wohlwollen veranlafst werden. Als ich vor meinen Schülern im Anschlufs an einen Simulationsfall die Schwierigkeiten der