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Januar 1891. „STAHL UND EISEN.“ Nr. 1. 55 lieber „an die Thore der Universitäten um Einlafs pochen würden“. Sie haben gepocht, und mit fester und kräftiger Faust gepocht, und sie konnten auf Erfolge pochen, die jedem Auge ersichtlich sind, welches, durch kein Vorurtheil geblendet, die Thatsachen ruhig auf sich wirken liefs. Und man hat ihnen die Thore aufgethan, aber nur halb. Und wie alle Halbheit, hat auch diese sich mit weiteren Halbheiten multiplicirt und natürlich genau nur ein Viertel des Richtigen ergeben! Sei im Besitze und du bist im Recht, Und heilig wird’s die Menge dir bewahren! In 23jährigem Kampf hatte die Realschule Schritt für Schritt sich Raum geschaffen, da traf sie die Gonsequenz des citirten Dichterwortes. In seinem Monopol bedroht, wehrte sich das Gymnasium gegen die heranwachsenden Ansprüche der jüngeren Schwester, es traten die begreiflichen Antipathien der mächtigen älteren Beamtenhierarchie solidarisch ein gegen ein Geschlecht, welches „den Homer in der Ursprache nicht gelesen hatte“, dagegen Französisch, Englisch, Physik und Chemie nicht mehr zu dem banausen Allotria zu rechnen sich vermafs und infolgedessen den Söhnen der alten Schulbildung ein unangenehmes, weil überlegenes Nachfolgerthum heranzuziehen sich anschickte. Es traten Stockungen ein in der natürlichen Fortentwicklung der Berechtigung. Die Neuphilologen, die Mathematiker und Natur wissenschaftler waren einstweilen als Studenten minoris ordinis zugelassen, die Medizin wehrte sich gegen die ihr unendlich viel geeignetere Schulbildung der Realgymnasien, nicht als ob sie die Vortheile derselben für ihr Studium nicht begriffen, sondern weil sie den Juristen und Theologen gegenüber nicht ebenfalls zu den Göttern zweiter Ordnung herabgesetzt werden wollte. Die Theologie ist durch die Natur ihres Studiums auf die alten Sprachen angewiesen, und den Juristen wird es natürlich angenehmer sein, Sachverständige zu requiriren, als selbst deren Arbeit zu thun. Volle zwölf Jahre lang wogte der Kampf. Non liquet war das Feldgeschrei, non possum die Parole! Wir wollen nicht auf die häfslichen Unklarheiten dieser Zeit mit ihren Hin- und Her- zerrereien des Näheren eingehen. Es war ein Tohuwabohu. Die Wenigsteh wufsten, was sie wollten, und Niemand, was er sollte. Das ist jetzt vorbei, und dafür sind wir unserm Kaiser zum lebhaftesten Dank verpflichtet. Ob das, was nun kommt, das Richtige ist, müssen wir abwarten, jedenfalls ist auch eine nicht völlig richtige, ja sogar unter Umständen eine unrichtige Entscheidung besser als der endlose Schrecken jener rathlosen Versumpfung, wie wir sie in den letzten Jahrfünften bis zur Hefe zu geniefsen hatten. In diese unerquickliche Sphäre der Unbe- greifbarkeit hat die Rede unseres Kaisers endlich reine Luft gebracht wie ein Blitzstrahl. Das Gymnasium wird reformirt und zwar nach der realen Seite hin. Das Realgymnasium wird ver schwinden, und es wird statt dessen nur noch lateinlose Realschulen geben. Dafs das Real gymnasium ohne ausreichende Berechtigung neben dem Gymnasium, wie es Kaiser Wilhelm II. gezeichnet, keine Existenzmöglichkeit mehr hat, ist klar, man würde es nur noch für schwächere Talente conserviren können, und dafür sind doch öffentliche Schulen nicht da. In Zukunft werden auf dem Gymnasium aber nicht mehr wie bisher die Söhne der höheren Gesellschaftsklassen, sondern nur noch die Kinder höherer Veranlagung ihren Platz finden, denn für mittlere Begabung dürfte es nicht durch führbar sein, bis zum 18. oder 20. Jahr neben der Muttersprache, Mathematik und Geschichte auch noch Lateinisch, Griechisch, Französisch, Englisch und Naturwissenschaft soweit sich an zueignen, dafs jeder dieser Lehrgegenstände auch nur für das primitivste Anfangscolleg der Univer sität ausreicht. Wir hallen das für richtig, wenn das Gym nasium wieder, wie die Verfügung von 1818 ausführt und Herr von Gofsler in einer seiner Parlamentsreden kürzlich wieder citirte, die Schule für die regierenden Klassen sein und bleiben oder eigentlich werden soll. Bisher ist das bekanntlich nicht gewesen. Wer die Ansprüche befriedigt, die eine solche Schule in 9 jährigem Cursus stellen mufs, der steht in der That über der Mittelmäfsigkeit der Begabung und des Fleifses, und neben einer solchen Fülle geistiger Anstrengung bedarf sein Körper ganz gewifs auch der physischen Pflege, die ihm die Rede unseres Kaisers vorbehält. Hoffen wir, dafs die Talente ausreichen, das Bedürfnifs zu decken. Ueberproduction ist bei solchen Gymnasien nicht mehr zu befürchten! Mit ganz besonderer Freude haben wir be- grüfst, was der Kaiser über die überfüllten Klassen gesagt. In keiner Beziehung haben unser Volk — und unsere Schulaufsicht — so schwer an un serer Jugend gesündigt und sündigen noch, als durch die Nichtachtung der in , dieser Hinsicht bestehenden gesetzlichen Verordnungen. Wenn alle Klassen der höheren Schulen nicht mehr als die gesetzliche Schülerziffer hätten, würde der Herr Gultus- etc. Minister nicht mit 800 Hunger candidaten belastet sein. Und wenn er alle die Gandidaten anständig bezahlte, die er beschäftigt, dann würde auch des, schmählichen Elendes etwas weniger sein, als es ist. Und da möchten wir auf den Punkt kommen, von dem aus die kaiser liche Rede vielleicht den meisten Widerspruch erfahren dürfte, das ist der Vorwurf, dafs die Schule der Socialdemokratie nicht ausreichend