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März 1891. STAHL UND EISEN. Nr. 3. 257 erhebt, deren Ueberführung in die Praxis er für sehr bedenklich erachtet, als einen „Frondeur" zu be zeichnen , so wäre das ein schlimmes Zeichen, dafs man hinfort die Wahrheit nicht mehr hören und an Stelle von Männern Schmeichler und Jasager grofs- ziehen wolle. Er könne sich aber nicht denken, dafs in einem Reiche, an dessen Spitze ein Hohenzoller stehe, jemals das Wort vergessen werden könnte, das unser erster deutscher Kaiser Wilhelm schon in seinen jungen Jahren, da er noch Prinz war, als den Grund satz seines Lebens bezeichnet habe: „Die will ich für meine wahren Freunde halten, die mir die Wahrheit sagen, wo sie mir mifsfallen könnte.“ (Lebhafter, lang anhaltender Beifall.) „Frondirt“ habe die deutsche, insbesondere die rheinisch-westfälische Industrie nie mals gegen die socialpolitische Gesetzgebung; wohl aber habe sie vor einer Ueberstürzung gewarnt, die in keinen Dingen gut sei, also auch in socialpolitischen nicht; sie habe ferner vermöge der Ueberzeugung einer besseren, ihr innewohnenden Kenntnifs der Verhältnisse an den Gesetzentwürfen, die vielfach in ihren Mängeln und Schwächen nur allzu deutlich die Spuren der schnellen Herstellung in der modernen Gesetzgebungsmaschine trugen, zu bessern gesucht, nicht etwa nur in tadelnder Kritik, sondern auch durch positive Vorschläge eines besseren, leichter gangbaren Weges. Dies habe sie für ihre Pflicht und ihr Recht gehalten, und dieses Recht werde sie sich nun und nimmer nehmen lassen. (Allseitige Zu stimmung.) Redner erörteit darauf die Novelle zum Kranken kassengesetz, den augenblicklichen Zustand der Unfall versicherung sowie das am 1. Januar d. J. in Kraft getretene Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Alters versicherung der Arbeiter, bei welchem leider der Vor schlag der Industrie, der auf die Errichtung einer Reichs versicherungsanstalt zielte, nicht berücksichtigt worden sei, obwohl auf diesem Wege eine unendliche Ver einfachung der jetzt so sehr schwerfälligen Einrichtung herbeigeführt worden wäre. Er giebt ferner ein an schauliches Bild von der Stellung der Industrie zu der Gewerbeordnungsnovelle und legt actenmäfsig dar, dafs man gegen einzelne Bestimmungen dieses Entwurfs, der auch von juristischer Seite eine herbe Kritik erfahren habe, durchaus nicht wegen eines grundsätzlichen Widerstrebens gegen eine Erweiterung des Arbeiterschutzes, Bedenken erhoben habe, sondern lediglich weil man eine Schablonisirung in diesen Dingen für gefährlich und zu weitgehende Bestim mungen, namentlich im Interesse der Erwerbsfähigkeit unserer Arbeiterbevölkerung, für bedenklich habe er achten müssen. Vor allen Dingen fordert, wie der Redner ausführt, die Industrie und das deutsche Er werbsleben überhaupt vorläufig Ruhe auf diesem Ge biete, um so mehr, als neue Pläne und Vorschläge meistens in den Köpfen derjenigen zu entstehen pflegen, welche mit dem Bezahlen am wenigsten zu ihun haben. Die sentimentale Arbeiterbeglückungs- theorie ist nicht imstande, wirthschaftliche Fragen zu lösen, dazu gehören nüchterne Erwägungen. Ver- hängnifsvoll sei der Stimmenfang bei Reichstagswahlen, wie Redner an der jüngsten Bochumer Wahl nach weist, die er, von der politischen Seite absehend, für unser wirthschaftliches Leben nicht als einen Sieg, sondern als eine schwere Niederlage unter lebhafter Zustimmung der Versammlung bezeichnet. Nachdem er noch des Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gedacht, bei dem ja auch der Staat einer angemessenen Disciplin nicht entbehren könne und das in unserer Industrie leider durch die Ver besserungsversuche so vieler Unberufener nachtheilig beeinflufst werde, geht er auf die Verhältnisse des Verkehrswesens über und erbringt den Nachweis, dafs auf diesem Gebiete das Recht, sich aufs bitterste zu beklagen, auf Seiten der Industrie sei. Niemand in Hin dieser Versammlung werde die Verdienste verkennen, welche der Minister der öffentlichen Arbeiten sich um die Verstaatlichung unserer Eisenbahnen erworben habe. Wenn aber gleichwohl von Anhängern der Verstaatlichung die bittersten Klagen ertönten, so müsse das doch einen Grund haben. Dieser Grund liege darin, dafs die Staatseisenbahnverwaltung auch nicht im entferntesten das gehalten habe, was die In dustrie von ihr erwartete. Redner will nicht von den grofsen Fragen der Tilgung der Eisenbahnschuld und der ,Verwendung der Ueberschüsse für die Hebung der wirthschaftlichen Interessen des Landes“, wie sie bei Berathung des Eisenbahngarantiegesetzes und später wiederholt von der königl. Staatsregierung versprochen worden sei, reden, sondern nur darauf hinweisen, dafs die Verstaatlichung der Eisenbahnen auch nicht diejenige technische Verbesserung im Verkehrswesen gebracht habe, welche allgemein von ihr erwartet worden sei. Die Mängel des Privateisenbahnwesens brauche man keinen Augenblick zu verkennen, um doch sagen zu dürfen, dafs die Privateisenbahnen der Steigerung des Verkehrs, wie ihn die letzten Jahre aufweisen, besser gefolgt seien und jene unbeschreib lichen Calamilälen vermieden haben würden, unter denen die Industrie und der Handel Preufsens in den letzten Monaten so schwer gelitten habe. Dafs die Staatseisenbahnen nicht dazu imstande waren, liege zum gröfsten Theile nicht in den Personen, sondern in der Organisation, in der Schwerfälligkeit der Ver waltung und dem Mangel an technischem Fortschritt, bei welch letzterem ohne allen Zweifel das Ueber- wiegen des juristischen Elements die gröfste Rolle spiele, durch welches das technische, namentlich das maschinentechnische Element in der Verwaltung des Staatseisenbahnwesens nicht den genügenden Einflufs besitze. Hinter dem Auslande blieben wir zurück, weil nicht in hinreichender Anzahl Techniker ins Ausland entsandt würden, um die dortigen Bau- und Betriebsverhältnisse zu studiren, was der Vortragende näher an den Oberbauverhältnissen und den Güter wagen gröfserer Tragfähigkeit erläutert. Eine so schwerfällige Verwaltung, bei der erst Alles nach langen »Erwägungen“ und „Sammlung von Be richten“ gemacht werden könne, passe für alles Andere eher als für das Verkehrswesen, bei welchem Stillstand doppelten Rückschritt bedeute. Man möge damit die Heeres- und Postverwaltung vergleichen. Warte man da auch so lange mit der Einführung von Neuerungen? Und gerade bei diesen Verwaltungen seien die Juristen auf das rein juristische Gebiet be schränkt! Schwerfällig und verlangsamt werde der Geschäftsgang insbesondere auch durch die jetzt be stehende Eintheilung der Betriebsämter, deren Ab grenzung für die Bahnunterhaltung zweckmäfsig sein möge, für den Betrieb und das Maschinenwesen da gegen in hohem Grade nachtheilig sei. Viel besser bewähre sich das System der sächsischen Staats bahnen , bei denen die Bahnunterhaltung ganz vom Betriebe getrennt sei. Bei Erörterung der in den letzten Monaten zu Tage getretenen Mifsstände sieht Redner selbstverständlich ganz von den Störungen ab, welche die elementaren Ereignisse der Ueberschwemmungen herbeigeführt haben. Auch leugnet er nicht, dafs die anhaltende Kälte des diesjährigen Winters Schwierigkeiten im Eisen bahndienst bereitete, deren glatte Ueberwindung gewifs nicht leicht war. Aber eine so vielfache Hülflosigkeit. wie sie der diesmalige Winter bei der Staatseisen- bahnverwaltung vorfand und die zu entschuldigen man sich allen Ernstes darauf berief, dafs das Schmieröl gefriere und die geneigten Rangirebenen nicht auf strammen Ostwind, sondern mehr auf West wind eingerichtet seien, müsse einen tieferen Grund haben, und dieser liege im System und vor Allem in den Unterlassungen der Vergangenheit, die sich eben 10