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sehbarer Zeit erschweren wird, sobald nämlich irgend ein Schritt nach der centraleuropäischen Zolleinigung hin erfolgen sollte. Diese Erkennt- nifs hat freilich nicht verhindert, dafs eben jetzt wieder Rufsland in weiterer Erhöhung seiner Zölle fortfährt. Aber letzteres geschieht bei weitem nicht mehr mit jenem Elan wie früher, und einstimmig lehnte die russische Zollcommis sion neuerdings einen Antrag der Moskauer Kauf mannsgilde, den Zoll für landwirthschaftliche Maschinen von 70 auf 250 Kopeken zu erhöhen, ab, weil die innere Industrie den Bedarf nicht decken könne. Solcher Beschlufs wäre noch vor Jahresfrist geradezu unmöglich in Petersburg gewesen; heute charakterisirt er die dortige, vor stehend skizzirte Tendenz und läfst es glaubhaft erscheinen, wenn davon die Rede ist, Rufsland habe mit grofsen centraleuropäischen Mächten bereits handelspolitische Anknüpfungen zu finden versucht. Dafs solche Anknüpfungen schon unter dem noch unerschütterten Regime des Mini steriums Wischnegradski im vorigen Herbst in Berlin eingeleitet wurden, erscheint um so be deutsamer angesichts des beim russischen Jahres wechsel in St. Petersburg und dem Latenten ins Acute getretenen Ministerkrise, deren Verlauf und Tendenz in diesem Augenblicke noch ganz un übersehbar ist. Verhandeln aber unter diesen Umständen Deutschland und Oesterreich über ihr handels politisches Verhältnifs, so, mag dabei auch schliefs- lich nur ein Handelsvertrag herauskommen, bedeutet das doch etwas mehr als eine sonst bei handelspolitischen Verhandlungen als Ziel vorschwebende gegenseitige Bindung von Tarif positionen. Deutschland und Oesterreich können sich jetzt gemeinsam den Boden bereiten, auf dem sie die Ernte ihrer bisherigen Zollpolitik einbringen können und, handelspolitisch geeint, stark genug sein werden, es zu thun. Unsere Freihändler haben zwar mit Ent rüstung jeden Gedanken zurückgewiesen, als ob ein differentielles Zollverhältnifs zwischen uns und Oesterreich möglich oder gar erspriefslich sein könnte. Nimmt man jedoch in Betracht, dafs Frankreich sich ein auf Differentialzöllen basirtes handelspolitisches System herausarbeitet, und Rufsland, weil es auf dem bisherigen Wege nicht mehr viel weiter kann, anfängt, nach An knüpfungspunkten zu suchen, so wird man wohl verstehen können, dafs unter Umständen gerade eine differentielle Zollbehandlung zwischen Oester reich-Ungarn und Deutschland das sehr geeignete Mittel sein könnte, um aus der unklaren handels politischen Lage Europas den gröfstmöglichen Nutzen zu ziehen und beiden Mächten vereint die Entscheidung über die im handelspolitischen Kometenjahr für ganz Europa zu fassenden Ent schlüsse vorweg zu sichern. Diese Gedanken in die Details der Agrar und Industriezölle zu verfolgen, versagen wir uns, hier kam es nur darauf an, dafs für die doch gegebene und nicht einseitig von uns erst zu schaffende handelspolitische Gesammt-Situation Momente mitsprechen können und wohl mit sprechen dürften, die nicht aus den Schlagworten Freihandel und Schutzzoll zu beantworten sind. So standen die Dinge, als im December v. J. Hr. von Caprivi in so auffallend schroffer Weise die Form zurückwies, in der Hr. Richter und seine Freunde dieses Gebiet gestreift hatten. In zwischen hat der ungarische Ministerpräsident Graf Szapary bei der Neujahrscour seine Lands leute belehrt, dafs der mit Deutschland abzu- schliefsende Handelsvertrag „Schlüssel und Basis“ für mit anderen Ländern abzuschliefsende bilden werde. Das kann doch nur heifsen: man wird es bei dem deutsch-österreichischen Vertrage mit mehr zu thun haben als mit einem Tarifverträge, dieser Vertrag wird für die internationalen handels politischen Beziehungen neue Grundlagen schaffen, was angesichts der vorstehenden Erörterungen wieder nur heifsen kann: er wird die von Frank reich für Europa aufgeworfene Frage der Differential zölle beantworten. Diese Deutung des Szapary- sehen Wortes von „Schlüssel und Basis“ liegt um so näher, als gleichzeitig, und zwar zum erstenmal, seit die Verhandlungen zwischen Oesterreich - Ungarn und dem Deutschen Reiche schweben, sich eine Berliner offieiöse Stimme in gleichem Sinne vernehmen liefs. Die Wiener »Politische Gorrespondenz« überraschte nämlich ebenfalls zum neuen Jahr alle Diejenigen, welche soeben noch um Tarifpositionen und -Concessionen gestritten, mit der Erklärung, es bestehe zwischen Berlin und Wien ein Einverständnifs nicht nur über das Wünschenswerthe eines Handelsvertrages, sondern auch darüber, dafs dieser Vertrag „von typischer Bedeutung“ sein werde. Unter diesen Umständen hat neuerdings in den mehrtägigen Verhandlungen des Reichstages über die den Abbruch unserer Handelspolitik, des Schutzes der nationalen Arbeit fordernden Anträgen der Socialdemokraten und Freisinnigen der Hinweis auf die mit Oesterreich schwebenden Verhandlungen kaum noch eine active Rolle ge spielt. Man wird die Erklärung des Hrn. v. Caprivi, sich an dieser Erötterung nur eventuelle thatsäch- liehe Irrthümer berichtigend betheiligen zu wollen, am richtigsten dahin interpretiren, dafs die ver bündeten Regierungen aus unseren eigenen wirthschaftlichen Zuständen heraus keinen Grund entnehmen können, die von freihändlerisch-social demokratischer Seite verlangte „Umkehr“ anzu treten. Wären die verbündeten Regierungen anderer Meinung, so hätten sie im Reichstage jetzt nicht schweigen dürfen, sie hätten in dem Kampfe der Meinungen auch die ihrige zur Gel tung bringen müssen.