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822 Stahl und Eisen. Invalidität»- und Altersversicherung. 1. September 1895. Bei einer Revision der Invaliditäts- und Alters versicherung wird deshalb vor Allem das Augen merk darauf zu richten sein, ob es nicht möglich ist, die Beitragslast etwas zu verringern. Es ist klar, dafs, wenn dieser Gesichtspunkt bei einer Revision in den Vordergrund tritt, man damit sich in einen Gegensatz zu den Behörden stellen wird, welche an der Reform der Invaliditäts- und Altersversicherung gegenwärtig arbeiten; denn nach den Aussagen der Vertreter der Regierung im Reichstage würde man bei der zu erwartenden Revision nur auf die Abstellung einzelner Mifs- stände, nicht auf eine Reform von Grund aus zu rechnen haben. Nach der Ansicht der Be hörden sollen die Grundlagen, auf denen die Invaliditäts- und Altersversicherung aufgebaut ist, bestehen bleiben, nur dort, wo sich in der Praxis Schwierigkeiten gezeigt haben, sollen diese durch die Novelle zu dem Gesetz vom 22. Juni 1889 aus der Welt geschafft werden. Jedoch dieser Gegensatz kann nicht abhalten, der Frage der Erleichterung der Beitragslast ins Antlitz zu sehen. Die Beiträge, welche für die Invaliditäts- und Altersversicherung gezahlt werden, sind ja auf den Zeitraum von 10 Jahren, also bis zum Jahre 1901, festgelegt, und es schiene deshalb an sich wenig nothwendig, die Frage der Er leichterung der Beitragslast zu erörtern. Indessen wird man nicht aus dem Auge verlieren dürfen, dafs die Opfer, welche die Arbeitgeber für die Arbeiterversicherung leisten, ein Ganzes bilden, und in diesem Ganzen steckt ein von Jahr zu Jahr in die Höhe gehender Theil, nämlich die Beitragslast für die Unfallversicherung. Die Bei träge für die Arbeiterversicherung nehmen all mählich einen Umfang an, der zu grofsen Be denken Anlafs giebt, und da die ausländischen Arbeitgeber überhaupt nicht, oder nicht in dem selben Mafse durch die Socialpolitik belastet sind, wie die Deutschen, so kommt der Gesichts punkt der Goncurrenz mit dem Auslande von Jahr zu Jahr mehr in Betracht. In den Kreisen der Behörden ist man über die Stimmung der Arbeitgeberkreise in dieser Beziehung wenig unterrichtet. Wie wir zu wissen glauben, neigt man dort der Ansicht zu, dafs die Invaliditäts- und Altersversicherung haupt sächlich deshalb einem sehr grofsen Kreise der Arbeitgeber unangenehm ist, weil das Marken einkleben, die Behandlung der Quittungskarten, die Verwaltung u. s. w. Schwierigkeiten bereiten. Es mufs zugegeben werden, dafs ein Theil der Klagen sich auf diese Angelegenheiten erstreckt. Jedoch sind das nur nebensächliche Fragen. Der Hauptpunkt, auf den es den Arbeitgebern an kommt, ist der, dafs sie durch die Arbeiter versicherung im ganzen und durch die In validitäts- und Altersversicherung im besondern Lasten auf gebürdet bekommen haben, welche nicht blofs die Erhöhung der Steuern an den Staat, die sie in dem letzten Jahrzehnt erfahren haben, sondern mehrfach diese Steuern selbst übertreffen. Man sollte deshalb die Frage der Beitragserleichterung für die Invaliditäts- und Altersversicherung an den be hördlichen Stellen nicht leicht nehmen. Wodurch aber könnte eine solche Erleichterung eintreten? Einmal könnte durch Vereinfachung der Ver waltung manche Ersparnifs erzielt werden. Je doch das würde nicht allzuviel zu bedeuten haben. Von der Idee der Vereinheitlichung der gesammten Verwaltungen der Arbeiterversicherung, die ja mit einer erklecklichen Ersparnifs ver bunden wäre, wird man nämlich absehen müssen. Eine ganze Reihe von Socialpolitikern hat diese Vereinheitlichung vorgeschlagen und auch mit den schönsten Gründen belegt. Jedoch möglich wird die Sache dadurch nicht. Man mufs nämlich bedenken, dafs sowohl bei der Krankenversicherung wie bei der Unfallversicherung, wie schliefslich bei der Invaliditäts- und Altersversicherung ganz verschiedene Factoren in Frage kommen. Einmal sind die Kreise der Versicherten gar nicht dieselben, jedoch das liefse sich dadurch ab ändern, dafs man die Versicherung in dem einen Zweige so weit ausdehnt, wie sie in dem andern ist. Aber die Beitragslasten, welche sich aus den verschiedenen Versicherungsarten ergeben, werden von verschiedenen Schultern getragen. Bei der Krankenversicherung zahlt der Arbeiter zwei Drittel, der Arbeitgeber ein Drittel, bei der Unfallversicherung trägt die Last der Arbeitgeber allein, und bei der Invaliditäts- und Alters versicherung kommt zu den die Beiträge auf bringenden Arbeitgebern und Arbeitnehmern noch das Reich als dritter Factor hinzu. Es ist ganz unmöglich, für Versicherungszweige, die im Grunde so verschieden sind, ein und dieselbe Organisation herzustellen; denn selbstverständlich werden die beitragleistenden Factoren den ihnen gemäfs der Höhe ihres Beitrages entsprechenden Einflufs auf die Verwaltung verlangen. Die radicalen Parteien machen sich die Sache sehr leicht, indem sie einfach verlangen, man solle die ganze Arbeiter versicherung nach dem Schema der Kranken versicherung einrichten. Sie sagen nicht, ob sie nun auch die Vertheilung der Beiträge bei der Unfall- und bei der Invaliditäts- und Alters versicherung so eingerichtet sehen möchten, wie bei der Krankenversicherung. Wir glauben kaum, dafs die Arbeiter darauf eingehen würden, wir glauben auch nicht, dafs die Befürworter dieses Planes an eine solche Aenderung in der Beitrags leistung denken; sie wünschen nur, dafs die Krankenkassenorganisation bei der gesammten Arbeiterversicherung Platz greife, damit einmal der Einflufs der Arbeiter auf die Verwaltung der ganzen Arbeiterversicherung ein gröfserer werde und damit zweitens den radicalen Parteien noch mehr Sinecuren als bisher zur Verfügung stehen, welche an strebsame Agitatoren verliehen werden