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Die Entwicklung der Arbeiterverhältnisse in England ist in hohem Grade interessant. Als der Reichstagsabgeordnete Hr. Gommerzienrath Möller, mein sehr verehrter College Hr. Dr. Beumer, Hr. Caron und ich im Jahre 1889 unsere Studien reise nach England machten, wollte dort Niemand die Socialdemokratie überhaupt kennen. Wir hatten sehr bald herausgefunden, dafs die, infolge des Dockarbeiterstreiks begonnene Organisation der ungelernten Arbeiter, die sich mit Windes eile über das ganze Land verbreitete, von über zeugten Socialdemokraten geleitet wurde. Als wir dies den Industriellen im Norden von Eng land sagten, begegneten wir nur mitleidigem und ungläubigem Lächeln, denn sie glaubten noch an ihre alten Trade Unions, die ihnen auch schon das Leben sauer genug gemacht hatten. Im Hin blick auf die englischen Trade Unions hatte ja noch im Jahre 1890 der Verein für Socialpolitik in seiner in Frankfurt abgehaltenen General versammlung sich in einseitiger Beurtheilung mit übergrofser Majorität für den Satz ausgesprochen, dafs die Organisation der Arbeiter den socialen Frieden bedeute. Welches Bild aber zeigt heute England? Die socialdemokratischen Gewerkvereine haben sich über das Land verbreitet, und viel bedeutender ist noch, dafs die alten Trade Unions, in Verleugnung ihrer Tradition, gegenwärtig fast vollständig die neuen Ideen in sich aufgenommen haben. Einen schlagenden Beweis dafür bietet der letzte Gongrefs der Trade Unions, welcher in den Tagen vom 3. bis 8. September 1894 in Norwich abgehalten wurde. Mit überwältigender Majorität wurde eine Resolution gefafst, in welcher ausgesprochen wurde, dafs „aller Grund und Boden und die Bergwerke jeder Art, sowie alle Productionsvertheilungs- und Tauschmittel in das Eigenthum der Nation übergehen müfsten“. Von höchster Bedeutung ist aber ein anderer Punkt. Wir hier in Deutschland machen die Beobachtung, dafs wissenschaftlich gebildete Männer sich der socialdemokratischen Bewegung meistens in der Stellung als Führer anschliefsen. Die Zahl derselben ist jedoch gering und be schränkt sich meistens auf solche Personen, denen es nicht gelungen ist, in anderen Kreisen oder in anderer Weise Geltung zu erlangen. Im übrigen wird man, abgesehen von confusen Köpfen, in denen die Begriffe Socialdemokratie und Staats- socialismus wirr durcheinander laufen, in den besseren und gebildeten Kreisen des Volks wenig Anhänger der Socialdemokratie finden. Es ist aber eine in hohem Grade auffällige Erscheinung, dafs in England gerade unter den Gebildeten und Gelehrten, besonders aber unter den Theologen, die Socialdemokratie eine sehr grofse Anzahl von Anhängern hat, die unter sich vollkommen or- ganisirt für dieselbe eintreten. Ich empfehle Ihnen zur Information über diese Verhältnisse die kürzlich in dem Feuilleton der Kölnischen Zeitung erschienenen fünf Artikel von einem jungen Ju risten, Hrn. Dr. Martin. Aus meiner Kenntnifs der Verhältnisse und der Personen, mit denen er verkehrte, habe ich allen Grund anzunehmen, dafs seine Berichte auf Thatsachen beruhen und das Resultat sehr eingehender und umfangreicher Studien sind. Die sogenannte Sauregurkenzeit für unsere deutsche Presse ist im Verlauf des Sommers aus gefüllt worden durch die Erörterung der Frage, inwieweit es geboten bezw. zweckmäfsig sei, auf dem Wege der Gesetzgebung schärfer gegen die Umsturzparteien vorzugehen. Die Organe der jenigen anderen Parteien, welche in Bezug auf die Verhetzung der Volksklassen gegen einander wohl auch nicht ein ganz reines Gewissen haben mögen, namentlich die Blätter der freisinnigen Vereinigungen, eiferten gegen einen solchen Act der Gesetzgebung, indem sie die Nothwendigkeit desselben damit in Abrede zu stellen versuchten, dafs sie die Socialdemokratie als eine zwar etwas vorgeschrittene, aber doch immerhin bürgerliche radicale Partei und demgemäfs als unschädlich und ungefährlich bezeichneten. In dieser Beziehung ist nicht zu verkennen, dafs die Führer der Socialdemokratie im Reichs tage sich insofern wenigstens eine gewisse Mäfsi- gung auferlegt haben, als sie es unterliefsen, Revolution und gewaltsamen Umsturz zu predigen. Auch hier aber sprechen die Thatsachen deut licher als das äufserliche Verhalten der Führer. Zum Beweise dessen habe ich in meinem bereits erwähnten Aufsatze auf den Bierboykott in Berlin verwiesen, der wohl nicht besser charakterisirt werden kann, als durch den in einer social demokratischen Versammlung gethanen Ausspruch des Parteiredners Fischer. Er bestätigte aus drücklich, dafs der Boykott nicht ein Kampf gegen den Brauerring sei, sondern eine Kraftprobe der gesammten Berliner Ar beiterschaft der Bourgeoisie gegenüber; und so ist es in der That. Der Bierboykott wurde begonnen, um die Maifeier durchzusetzen, und wird jetzt, nachdem bereits alle damals entlassenen Arbeiter wieder Anstellung gefunden haben, fortgeführt lediglich um den Arbeitsnachweis im socialdemokratischen Sinne durchzuführen, d. h. die Arbeitgeber zu zwingen, jeden ihnen von dem socialdemokratischen Bureau zugewiesenen Arbeiter anzunehmen. Vor einiger Zeit schien es, als wenn die Führer zu einem Compromifs bereit waren; der Verlauf der Verhandlungen liefs aber unzweifel haft erkennen, dafs sie zu ihrer schliefslich schroff ablehnenden Haltung durch die Arbeiter gezwungen waren. Sie haben augenscheinlich nicht mehr das Heft in der Hand, sondern sie werden geschoben. Bei dem Bierboykott ist es aufserordentlich beklagenswerth, dafs nicht nur die grofsen Braue-