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1. September 1898. Die Novelle zur Invaliditäts- und Altersversicherung. Stahl und Eisen. 815 hältnifsmäfsig langsam vor sich geht. Nun mufs man bedenken, dafs es sich bei denjenigen Per sonen , welche Ansprüche auf Renten erheben, um Leute handelt, die nicht über Mittel verfügen, welche sie auch nur einige Zeit über Wasser halten könnten. Werden ihre Ansprüche nicht schnell erledigt, so setzt sich bei ihnen eine Un zufriedenheit fest, die geradezu im Gegensätze zu der Tendenz der ganzen Arbeiterversicherungs- Gesetzgebung steht. Sicherlich hat der Arbeiter ein Recht darauf, dafs seine Ansprüche möglichst schnell geprüft werden, Staat und Gesellschaft aber haben auch ein Interesse daran, dafs dies geschieht, weil man gerade die Zufriedenheit der breiteren Schichten durch die Arbeiterversicherung fördern will. Aufserdem kann für die Aenderung der Umstand angeführt werden, dafs die Kranken versicherung in den Krankenkassen, die Unfall versicherung in den Berufsgenossenschaften sich eigene Instanzen geschaffen haben. Die Invaliditäts- und Altersversicherungsanstalten entsprechen diesen Organen nicht. Während Krankenkassen und Berufsgenossenschaften die ersten Entscheidungen fällen, sind es bei der Invaliditäts- und Alters versicherung die Landräthe oder die ihnen ent sprechenden unteren Verwaltungsbehörden. Man wird ab warten müssen, ob und wie der Staats- secretär des Innern diesen öfters von ihm geäufserten Gedanken in der Novelle zur Verwirklichung bringen wird. Er hat darüber keinen Zweifel gelassen, dafs die Neuerung Kosten verursachen würde. Wenn sie jedoch zweckmäfsig wäre und that- sächlich einen schnelleren Geschäftsgang verbürgte, so würden diese Verwaltungskosten ihre Einführung nicht hindern dürfen. Den Hauptpunkt der Novelle wird aber auch diesmal die andere Vertheilung der Renten last ausmachen. Man wird sich erinnern, dafs schon in der vorigen Novelle ein derartiger Vor schlag enthalten war. Im Gesetze ist bestimmt, dafs die Versicherungsanstalten Vermögen an sammeln sollen, welche dem Kapitalwerth der laufenden Renten entsprechen. Die finanzielle Entwicklung der Anstalten nach dieser Richtung ist nun recht verschieden ausgefallen. Vermögen haben ja sämmtliche Anstalten, aber diejenigen, welche namentlich in mehr landwirthschaftlichen Gegenden existiren, sind bei der Höhe der jetzigen Beiträge nicht in der Lage gewesen, ein Vermögen anzusammeln, welches den gesetzlichen Bestim mungen entspräche. Nach den Rechnungsausweisen der letzten Jahre ist es sogar bei den Anstalten Ostpreufsen und Niederbayern erwiesen, dafs sie in ihrem Vermögen den Kapitalwerth nicht be sitzen. Somit entsprechen sie dem Gesetze nicht, und es mufs unter allen Umständen, wenn die Autorität des Gesetzes aufrecht erhalten werden soll, hier Remedur geschaffen werden. Es giebt übrigens eine ganze Anzahl Anstalten, wie Posen, Oberpfalz, Oberfranken und Niederfranken, die nahezu in derselben Lage sind, wie Ostpreufsen und Niederbayern. Man wird daher, wenn man von finanziell ungünstigen Anstalten spricht, nicht blofs die beiden erstgenannten im Auge haben dürfen. Die verbündeten Regierungen dachten und denken sich die nothwendige Aenderung so, dafs sie eine andere Vertheilung der Rentenlast vornehmen wollen. Bisher hat jede Versicherungs anstalt den Antheil der Last für sich zu tragen, der aus der einzelnen Rente auf sie entfällt. Die verbündeten Regierungen wollen nunmehr, dafs ein Theil der Rentenlast von der Gesammtheit der Versicherungsanstalten und nur der Rest von den einzelnen aufgebracht wird. Zuerst lag es im Plane, 8/4 der Last von der Gesammtheit auf bringen zu lassen. Späterhin, als der Bundes- rath sich über die Novelle der vorletzten Tagung schlüssig gemacht hatte, reducirte man diesen Theil auf die Hälfte. Es darf als ziemlich sicher angesehen werden, dafs ein ähnlicher Vorschlag auch in der neuen Novelle auftauchen wird. Wenn man die Entwicklung des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes verfolgt, so wird man sich sagen müssen, dafs, wenn der von der In dustrie gemachte Vorschlag angenommen worden wäre, eine solche Galamität, wie sie gegenwärtig besteht, gar nicht hätte vorkommen können. Wenn nämlich, wie die Industrie damals wünschte, eine Reichsversicherungsanstalt für den ganzen Versicherungszweig errichtet worden wäre, so würde von selbst die Rentenlast von der Gesammt heit getragen worden sein. Die Gesammtheit hätte für die Aufbringung des nöthigen Vermögens im Verhältnifs zum Kapitalwerth der Rente ein treten müssen. Man hat damals diesen Vorschlag nicht angenommen, theils aus particularistischen Gründen, theils weil die Landwirthschaft glaubte, bei dem anderen Verfahren besser fortzukommen. Diese Rechnung hat sich nun als unrichtig er wiesen, und man wird es den Anstalten, die in vornehmlich industriellen Gegenden bestehen, nun mehr nicht übel nehmen können, wenn sie nicht ohne weiteres auf den neuen Vorschlag eingehen. Es werden dazu auch noch particularistische Be denken kommen, und so ist es ziemlich wahr scheinlich, dafs dieser Vorschlag der verbündeten Regierungen im Reichstage eine Mehrheit nicht finden wird. Die Regierung hat erklären lassen, dafs, wenn dies der Fall sein würde, sie, wenigstens soweit Preufsen in Betracht kommt, auf admini strativem Wege vorgehen wolle. In welcher Weise, ist nicht gesagt. Jedenfalls würde sich Bayern Preufsen anschliefsen müssen. Man kann sich aber kaum eine andere Regelung in dieser Be ziehung denken, als die Erhöhung der Beiträge für die finanziell ungünstig situirten Anstalten. Das würde in wirthschaftlicher und socialer Be ziehung für die Landestheile, welche diese Anstalten repräsentiren, von gröfstem Nachtheile sein. Man wird deshalb den verbündeten Regierungen nur