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814 Stahl und Eisen. Die Novelle zur Invaliditäts- und Altersversicherung. 1. September 1898. allem hat das gesammte deutsche Erwerbsleben, und die Landwirthschaft noch mehr als die Industrie, das gröfste Interesse daran, dafs eine bestimmte Tendenz von den Regierungsstellen der Novelle aufgeprägt wird, und das ist die, dafs den Arbeitgebern, die bekanntlich mit den Arbeitern zusammen die Beiträge aufbringen, nicht neue Lasten aufgebürdet werden. Man kann auch, soviel über die Intentionen der zuständigen be hördlichen Stellen verlautet, ziemlich sicher sein, dafs diese Tendenz in der Novelle vorwalten wird. War doch die Regierung schon bei den Be strebungen der Reichstagsmajorität auf Mehrung der Wohlthaten für die Arbeiter bei der Unfall versicherung darauf bedacht, zu hemmen und nicht den deutschen Wettbewerb gegenüber dem Auslande durch allzugrofse Lasten niederzubeugen. Die Zahlen, welche von Jahr zu Jahr über unseren Export veröffentlicht werden, lassen doch erkennen, dafs, je mehr unsere Bevölkerung wächst und je mehr Kräfte sich deshalb der Industrie zuwenden, um so gröfser auch der Theil der Erzeugung wird, welcher im Auslande Absatz finden mufs. Auf dieses Moment der wirthschaftlichen Ent wicklung wird man nicht blofs bei den wirth- schafts- und handelspolitischen, sondern bei allen Gesetzen, und namentlich bei denen, welche die Arbeiterversicherung betreffen, Rücksicht nehmen müssen. Es ist zweifellos, dafs die Regierung allen Bestrebungen auf irgendwie bedeutende Er höhung der Lasten aus der Invaliditäts- und Altersversicherung entgegentreten wird. Zu den Plänen, die infolgedessen wenig Aussicht auf Ver wirklichung haben, gehört in erster Reihe die Herabsetzung der Altersgrenze für den Be zug der Altersrente von dem 70. auf das 65., oder gar, wie Einige wollen, auf das 60. Lebens jahr. Schon jetzt wird die Höhe der Beiträge für die Invaliditäts- und Altersversicherung in manchen Kreisen recht drückend empfunden. Wenn aber die Herabsetzung der Altersgrenze für die Altersrente erfolgen sollte, so würde eine recht beträchtliche Erhöhung der Beiträge nöthig werden. Es würde die Herabsetzung vom 70. auf das 65. Jahr die Erhöhung jeder Marke um 5 L li 8 und die vom 70. auf das 60. Lebensjahr eine Erhöhung um 13 © nöthig machen. Dabei wäre zu beachten, dafs die Zahl der jährlich zu gehenden Altersrenten bei der Herabsetzung auf das 65. Lebensjahr von 30’234 auf 56 140 und bei Herabsetzung auf das 60. Lebensjahr auf 80 750 steigen würde. Die Erhöhung der Be lastung würde im ersteren Falle 30 und im letzteren 60 % betragen. Infolge der Ansamm lung der verschiedenen Vermögen bei den einzelnen Versicherungsanstalten ist man in behördlichen Kreisen zu der Ueberzeugung gekommen, dafs nach dem Ablauf der ersten Beitragsperiode, also nach dem Jahre 1901, eine Erhöhung der Beiträge im allgemeinen nicht wird einzutreten brauchen. Es wäre eine herbe Enttäuschung der hierauf gesetzten Hoffnungen, wenn durch die Herabsetzung der Altersgrenze für den Bezug der Altersrente nun doch eine so gewaltige Steigerung der Bei tragslast herbeigeführt werden sollte. Wie gesagt, ist daran aber nicht zu denken, dafs die behörd lichen Stellen einen solchen Vorschlag in ihre Novelle aufnehmen werden. Ebensowenig Aussicht hat der Plan der Ein führung einer Wittwen- und Waisenversiche- rung für Arbeiter. Bekanntlich besteht dieser Plan auch in Kreisen, welche nicht zu den social politischen Ideologen gehören. Er ist ja auch an sich recht gut, indefs spricht doch gegen seine Durchführung die Höhe der Kosten. Würde eine Wittwe jährlich nur 60 e6 und jedes Waisenkind 32 •6 erhalten sollen, so würde ein Deckungs kapital von 349 Millionen Mark erforderlich sein und jede Beitragsmarke würde imPreise um 22,83 9 erhöht werden müssen. Es ist das eine so enorme Steigerung der Beitragslast, dafs, selbst wenn die Regierung wollte, die Mehrheit des Reichstages doch auf die thatsächlichen Verhältnisse Rücksicht nehmen und den Plan ablehnen müfste. Es läfst sich eben nicht alles, was für die Arbeiter event. zu thun wäre, in verhältnifsmäfsig kurzer Zeit durchführen. Man mufs doch bedenken, dafs die drei gewaltigen Arbeiterversicherungsgesetze in den 80er Jahren in einem Zeitraum von etwa 5 bis 6 Jahren geschaffen wurden. Es sind noch nicht 10 Jahre verflossen, seit das letzte dieser Versicherungsgesetze erlassen ist. Andere Cultur- staaten haben Deutschland zwar hier und da zu folgen versucht, sind aber gröfstentheils entweder auf halbem Wege stehen geblieben, oder nur in ganz verkümmerter Weise vorwärts gekommen. Auf dieses Moment und darauf, dafs sich erst die bestehenden Gesetze weiter einleben müssen, ehe an die Verwirklichung neuer Projecte gedacht werden kann, mufs und wird Rücksicht genommen werden. Dagegen dürfte die neue Novelle eine positive Neuerung insofern aufweisen, als der Versuch gemacht werden dürfte, die unteren Instanzen in der Organisation der Invaliditäts- und Alters versicherung neu zu gestalten. Man wird sich erinnern, dafs der Staatssecretär des Innern, Graf v. Posadowsky, acht Jahre hindurch an der Spitze der Posenschen Verwaltung gestanden, und dafs er damals Gelegenheit gehabt hat, die Or ganisation der Invaliditäts- und Altersversicherung auf ihre Zweckmäfsigkeit zu prüfen. Wie er mehrfach auch im Reichstage ausgeführt hat, ist er dabei zu der Ueberzeugung gekommen, dafs es verfehlt war, die bestehenden staatlichen Be hörden als untere Instanzen zu wählen. Die Praxis hat auch gezeigt, dafs bei der jetzigen Regelung ein grofser Uebelstand besteht und das ist der, dafs infolge der jetzigen Organisation die Erledigung der erhobenen Rentenansprüche ver-