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Es wurde damals dringend hervorgehoben, dafs es nicht mehr so weitergehen könne beim Abschlufs von Handelsverträgen, da hat man erst Sachverständige gehört und vernünftige Tarifpositionen von den Russen herauszuholen gesucht, und — Gott sei Dank! — zum grofsen Theile erhalten. Aber der Herr Vorredner irrt vollständig, wenn er glaubt, dafs der russische Handelsvertrag uns deshalb einen grofsen Export nach Rufsland gebracht hätte, nur weil eben dieser Handels vertrag geschlossen worden ist. Nein, die Sache liegt wesentlich anders: wir hatten Rufsland provocirt. Wir schlossen mit Oesterreich einen Handelsvertrag, gaben Oesterreich billigere Getreidezölle, und da Rufs land nicht die Meistbegünstigungsclausel mit uns hatte, so bezogen wir österreichisches Getreide zum billigeren Zollsätze, während wir das russische nach wie vor mit 5 e verzollten. Wir hatten also dadurch die Russen provocirt; man mufs doch gerecht sein. M. H.! Ich exportire seit 35 Jahren nach Rufsland, fast den gröfsten Theil meiner Erzeugung. Und heute, unter der günstigen wirthschaftlicben Entwicklung Rufslands, effectuire ich, wie alle oberschlesischen Werke, wieder genau so leicht nach Rufsland, wie vorher. Aber damals, nach dem österreichischen Vertrage, standen wir im Zollkrieg mit Rufsland, und deshalb wurden wir in unserem Export nach Rufsland lahmgelegt. Das mufs besonders hervorgehoben werden. (Heiterkeit.) Ich verstehe nicht, warum sowohl der Herr Referent, wie namentlich auch der geehrte Herr Vorredner so sehr die Zahlen ins Gefecht führten in betreff der in der Landwirthschaft und Industrie beschäftigten Be- völkerung. Ich habe diese Zahlen nicht geprüft, will sie aber glauben. Indessen fällt mir ein altes Wort bei dieser Art von Statistik ein: „Anders lesen Knaben den Terenz, Anders Hugo Grotius." (Heiterkeit.) Mir fällt noch dabei ein Beispiel ein. Es gab im alten Rom einen Mann mit geradem Sinn, der un- bewufst eine bedeutende volkswirthschaftliche Lehre gab. Dieser Mann hiefs Menenius Agrippa. Als sich das Proletariat auf den heiligen Derg begab und nicht zurückkehren wollte in die Stadt, da hielt er ihm das Beispiel vor, das Ihnen bekannt ist: das Gleichnifs vom Magen und den übrigen Körperlheilen. M. H.! Die Zahlen, welche der verehrte Herr Vor redner an führte, lassen einen Menschen vor meinem Geiste aulfauchen, der eine grofse Lunge hat auf der linken und eine kleine Lunge auf der rechten Seite. Die grofse Lunge — ich will das zugeben — soll die industrielle sein und die kleine das bäuerliche Ele ment, — „bäuerlich“ sage ich, denn ich liebe das Wort „Agrarier“ gar nicht, es ist doch der „deutsche Bauer“. (Zuruf: aber nicht wahr!) M. H., ein Mensch mit einer Lunge allein kann nicht leben, er führt ein kümmerliches Dasein. Die einzelnen Erwerbszweige sind so miteinander verknüpft, dafs der eine grofse Nährstand nicht ohne den anderen zum Wohle der Nation bestehen kann. Ich bin weit davon entfernt, einen geschlossenen nationalen Handelsstaat Ihnen vorzuführen, wie ihn z. B. Fichte sich gedacht hatte, als es noch" keine Locomotiven gab. Die Verkehrs verhältnisse sind andere geworden, die geographische Lage Deutschlands bedingt Handelsverträge und Be- dachtsamkeit auf Hebung unseres Exports; darin stimme ich mit Hm. Bergrath Gothein vollständig überein. Aber die landwirthschaftliche Scholle ist nicht nur ein Gegenstand für Hypotheken, sie bildet schliefslich das Vaterland ! Wenn diese Scholle nicht mehr rentbar ist, was soll man dann mit ihr machen? Wir können sie nicht im Güterwagen mit uns nehmen und auswandern! Nein, die Scholle, die von Gottes Sonne und Regen fruchtbar gemacht wird, und der deutsche Bauer, der sie beackert, sie müssen rentbar bezw. kaufkräftig erhalten werden ! Ich stimme mit Ihnen darin überein, dafs der Latifundienbesitz ein Unding ist für Deutschland; aber nehmen wir einen intensiven Ackerbau durch den deutschen Bauer in unsere Forderungen auf, dann werden wir die deutsche Scholle rentbar erhalten ! Es geht nicht, dafs wir Handelsverträge abschliefsen ohne die Landwirthschaft. Die Landwirthschaft hatte sich vor 1879 soweit verirrt, dafs sie zum gröfsten Theile ä tout prix freihändlerisch war. Die Grofs- grundbesitzer haben seitdem recht viel schutzzöllne- risches Wasser in den freihändlerischen Wein gegossen. Ueberhaupt giebt es in Deutschland keinen Mann mehr, aufser einigen Professoren, Advocaten, Journa listen, die mit der Industrie und dem realen Leben in keinem Zusammenhänge stehen, welcher im Frei handel den Schutz der nationalen Arbeit sieht. Man kann heute noch nicht wissen, wie die Tarife von 1903 in ihren Zollpositionen festgesetzt werden müssen; aber ebensosehr, wie wir für uns den Schutz unserer industriellen Händearbeit beanspruchen, ebenso müssen wir gerecht sein und dem deutschen Bauer die Arbeit seiner Hände rentbar und profitabel machen. Und wenn ich vorher gesagt habe, dafs der eng lische Gesandte 1842 auf die „übertriebenen Forde rungen“ der deutschen Eisen- und Textilindustriellen hingewiesen hat, so wiederhole ich Ihnen zum Schlufs das Wort meines Freundes Scherenberg und wünsche, dafs alle, die berufen sind, mitzuwirken am Abschlufs der neuen Handelsverträge, dies in seinem Sinne thun : „Webstuhl sause, Ambofs sprühe, Segen spendend fort und fort! Deutsche Arbeit, wachse, blühe, Deutschen Reiches Grund und Hort!“ (Lebhafter Beifall!) (In Anbetracht der vorgerückten Zeit wird die Redezeit auf je 5 Minuten beschränkt.) Oberbergrath Dr. Wachler: Nach der anregenden Discussion ist es mir schwer, der Mahnung des Herrn Vorsitzenden Rechnung zu tragen, aber ich will mich aufserordentlich kurz fassen. Ich möchte nur zwei Mifsverständnisse, die Hr. Abgeordneter Gothein in meinen Ausführungen gefunden hat, berichtigen. Ich habe einmal in meinem Vortrage nicht gesagt, dafs seit dem Rücktritt des grofsen Reichskanzlers Fürsten Bismarck ein vollständiger Umschwung stattgefunden habe in der Handelspolitik, sondern nur: es ist insofern eine Aenderung eingetreten, als der Körnerzoll von 5 4 auf 3,50 JC ermäfsigt worden ist. Ich bin der Meinung, dafs sich der grofse Reichskanzler von Hause aus, solange er Handelsminister und Reichskanzler gewesen ist, mit vollem Verständnifs gesagt hat, dafs sich Deutschland in wirthschaftlicher Beziehung nicht isoliren dürfe, sondern dafs auch er nach dem Ab schlufs von Handelsverträgen hingeleitet hat. Nur hat man 1892 nach dem Rücktritt des Fürsten Bis marck in aufserordentlicher Verblendung das dringende Bedürfnifs gehabt, etwas zu schaffen, um zu zeigen, wieviel gescheiter man ist als er. Und wenn seit 1880 der Export von Deutschland nach Oesterreich etwas gestiegen ist, so ist doch die Steigerung von 1890 an nach der deutschen Reichsstatistik nur eine recht minimale. Ich möchte dann bemerken, dafs ich auch nicht gesagt habe, dafs Frankreich bereits seit 1870 in seiner Handelspolitik einen vollständigen Umschwung vollzogen habe, sondern ich habe ausdrücklich ver glichen die Exporte und Importe in Frankreich bis 1891 und von 1892 an. Bis zu 1891 ist Frankreichs Export und Import sogar noch gestiegen (Redner führt hierfür zahlenmäfsige Beweise an). Ich habe dann noch dem Hrn. Abgeordneten Gothein gegenüber zu bemerken, dafs ich durchaus nicht auf dem Standpunkte stehe, dafs langsichtige Verträge schlechter wären als kurzsichtige; ich habe