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436 Stahl und Eisen. Berichte über Versammlungen aus Fachcereinen. 1. Mai 1898. Landwirthschaft nach Abzug dessen, was sie in Preufsen selbst von dem Staat- an Schullasten u. s. w. bekommt, noch nicht einmal so viel Steuern zahlt, wie die Börsensteuer beträgt, das erscheint paradox, Sie können es sich aber vollständig nachrechnen! Es ist gesagt worden, — und dabei wurde „Sehr richtig!“ gerufen —, man müsse dafür sorgen, das Inland als kaufkräftigen Absatzmarkt zu erhalten. Ge- wils ist das nothwendig; es ist aber ein Irrthum, an zunehmen, dafs man in der Landwirthschaft einen besonders kaufkräftigen Absatz schaffe dadurch, dafs man höhere Gelreidezölle einführt. Gestatten Sie mir hierzu ein kurzes Beispiel: Wir haben in der Zeit von 1867 bis 1876 die höchsten Getreidepreise des Jahrhunderts gehabt; unbestritten ging es damals der Landwirthschaft vorzüglich, — und in dieser Zeit der höchsten Getreidepreise ist unsere landwirthschaft- liehe Bevölkerung am stärksten zurückgegangen. Das war die Zeit, in welcher der Grofsgrundbesitz die lohnendste Wirthschaft treiben konnte, und infolge der guten finanziellen Resultate seinen Grofsgrund besitz ausdehnen konnte durch Aufkäufen von Bauern stellen. In der folgenden Zeit, von 1879 bis 1891, in der Zeit der sich fortwährend steigernden Zoll erhöhungen, zeigt sich wiederum das merkwürdige Ereignis eines weiteren Rückgänge» gerade der land- wirthschaftlichen Bevölkerung, und nicht nur dieser allein, sondern überhaupt der Bevölkerung in den ländlichen Bezirken. Speciell in einem Lande wie Mecklenburg-Strelitz, in dem der Grofsgrundbesitz 2/3 der ganzen Fläche ausmacht, ging damals die Ge- sammtbevölkerung um 3,3 % zurück. In Pommern ging die Bevölkerung in dieser Zeit um 1,3% zurück, trotzdem die Bevölkerung in den gröfseren Städten, namentlich Stettin und Swinemünde, sehr erheblich zunahm. Und seitdem wir die vielgeschmähte Herab setzung der Getreidezölle haben, seit 1892, findet wieder eine erhebliche Steigerung der Bevölkerungs menge auch in Pommern, selbst in Mecklenburg- Strelitz statt. Die Zaid der Consumenten von In dustrieerzeugnissen in der landwirthschaftlichen Be völkerung wird also durch hohe Getreidepreise nicht vermehrt, im Gegentheil vermindert. Es ist hervorgehoben worden, dafs der ganze Ueberschufs unserer Bevölkerung, speciell seit der Volkszählung von 1882, ausschliefslich der Industrie, dem Handel und den freien Berufen zu gute kam. Ja in der landwirthschaftlichen Bevölkerung fand sogar ein Rückgang statt, der in den Jahren 1882 bis 1895 mehr als 'It Million Menschen ausmacht, und wenn dieser Rückgang in der landwirthschaft lichen Bevölkerung nicht noch gröfser ist, so liegt das daran, dafs wir in den westlichen Provinzen eine aufserordentliche Zunahme des Kleingrundbesitzes ge habt haben. (Sehr richtig!) Ich werde ermahnt, zum Schlüsse zu kommen, und bin gern bereit, dem Folge zu leisten. — Nur noch eins: Wie viele Menschen leben vom Aufsenhandel? Als ich vor ungefähr 4 Jahren als durchschnittliche Zahl nach oberflächlicher Berechnung 11 Millionen in Deutschland nannte, da erscholl ein Ruf der Ent rüstung, und selbst von nahestehender Seite wurde mir gesagt: „Wie kann man nur so übertreiben!“ M. H., ich habe, speciell fulsend auf der Statistik der oberschlesischen Berg- und Hüttenwerke, diese Be rechnung weiter verfolgt und bin zu einer noch höheren Ziffer, zu 12 Millionen, gekommen, und heute ist es bereits so weit, dafs der Abgeordnete von Eynern, der sich von mir in sehr Vielem unterscheidet, diese Zahl als unwiderleglich darstellt. Schaffen Sie diese Zahl Menschen durch Vernichtung des Exports aus unserem Vaterlande heraus, — wo bleibt da die Landwirthschaft, wo bleibt die Industrie? Der Herr Referent hat geschlossen: man solle das Vertrauen haben zu der Regierung, dafs sie das Beste des Volkes auch bei den künftigen Verträgen fördern wolle. Gewifs, m. H., wir können dies Ver trauen haben. Ich würde aber nichts für verfehlter halten, als wenn man im stillen Vertrauen auf die Regierung die Hände in den Schofs legen wollte. Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient (Sehr richtig!), und wenn Sie in jetziger Zeit nicht eifrig bei der Arbeit sind, wenn Sie nicht dafür sorgen, Ihre Stimmen überall, auch bei den bevorstehenden Wahlen, zur Geltung zu bringen, so wird die Regierung nicht stark genug sein, um das wirthschaftliche Inter esse des Vaterlandes zu fördern ! (Lebhafter Beifall.) Director Kollmann-Bismarckhütte: Ich freue mich, dafs der verehrte Herr Vorredner mit dem Herrn Referenten doch auch das Vertrauen zu der Regierung hat, dafs sie genau wissen wird, was sie unter den obwaltenden schwierigen Verhältnissen zu thun hat. Ich habe heute etwas nachgegraben in deutscher Handelspolitik und dabei die Depesche gefunden, die der englische Gesandte am Berliner Hofe, Graf West moreland, am 13. Juli 1842 an den Grafen Aberdeen, seinen hohen Vorgesetzten, vertraulich gerichtet hat, als es sich damals um Verhandlungen Englands mit dem Zollverein bezüglich eines Handelsvertrags han delte. Die Depesche lautet in deutscher Uebersetzung: „Die preufsischen Minister, die damit be schäftigt sind, den Zolltarif festzusetzen und vorzu schlagen, zeichnen sich durch ihre freie Anschauung bezüglich des Handels aus, und für ihren Wider stand gegen die Forderungen der deutschen Eisen- und Textil-Industriellen schlagen sie —- die preufsi schen Minister — vor, dafs die englischen Unter händler bei Nebensachen nachgeben sollen, damit sie in der Hauptsache den übertriebenen Forde rungen dieser deutschen Industriellen entgegen treten können, um den grofsen Schaden abzuwenden, den der englische Handel durch die Forderungen der deutschen Industriellen erleiden könnte.“ M. H.! Als ich diese Depesche in Häufsers Biographie von Friedrich List, des gröfsten deutschen Nationalökonomen, fand, da dachte ich mir: heute kann so etwas nicht mehr vorkommen in Deutsch land, nachdem wir den unersetzlichen Reichskanzler Fürsten Bismarck gehabt haben, der die politische Machtstellung seines Volkes und die wirthschaftliche Machtstellung Deutschlands fundirt hat. Nach einem Bismarck sind derartige Depeschen in Deutschland unmöglich, und ich habe dies Schriftstück absichtlich mitgebracht, um Ihnen zu beweisen, was wir seit Bismarck bezüglich der Vertretung der wirthschaft lichen Interessen unseres Volkes seitens unserer Re gierung im Gegensatz zu 1842 zu erwarten haben. In diesem Sinne danke ich dem Herrn Referenten für seinen Ausspruch des vollen Vertrauens zur Regierung. Die jetzige Regierung unterscheidet sich von der vom letzten Redner gelobten Aera Caprivi dadurch, dafs letztere zwar Sachverständige beim Abschlufs des russischen Vertrages gehört hat, dies aber beim öster reichischen Handelsverträge nur sehr ungenügend gethan hatte, während heule schon die Sachverstän digen gehört werden wegen» der späteren Handels verträge. (Zwischenrufe des Abgeordneten Herrn Gothein.) Hr. Dr. Gothei n , Sie waren damals noch jung. (Grofse Heiterkeit.) Und mit Recht hat der Herr Vorsitzende hervorgehoben, dafs der Mann, der gegen diejenigen wenigen Industriellen, die damals gehört worden sind — auch ich war darunter — den Handels vertrag mit Oesterreich, diesen unseligen, in erster Linie vereinbart hat, gegen den sich dann die Stimmen der deutschen Industriellen erhoben, dafs dieser Mann ein Geheimrath war, für den die Bedürfnisse der Industrie immer ein Geheimnifs gewesen, weshalb er ja auch wohl Geheimrath genannt wird. (Heiterkeit.)