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KONGRESS-SAAL DEUTSCHES HYGIENE-MUSEUM Freitag, den 18. März 1966, 19.30 Uhr Sonnabend, den 19. März 1966, 19.30 Uhr Sonntag, den 20. März 1966, 19.30 Uhr 8. Philharmonisches Konzert Dirigent: Heinz Rögner, Berlin Die Dresdner Philharmoniker Die Dresdner Tanzsinfoniker (Einstudierung: Günter Hörig) Rolf Liebermann geb. 1910 Konzert für Jazzband und Sinfonieorchester Introduktion (Adagio) Jump (Allegro vivace) Scherzo I (Allegro molto) Blues (Lento) Scherzo II (Allegro vivace) Boogie Woogie (Allegro) Intcrludium (Andante sostenuto) Mambo (Allegro molto) Erstaufführung Darius Milhaud geb. 1892 La Creation du monde (Die Erschaffung der Welt) Erstaufführun PAUSE Igor Strawinsky geb. 1882 George Gershwin 1898-1937 Ebony Concerto Allegro moderato Andante Moderato Soloklarinette: Friwi Sternberg Erstaufführung Ein Amerikaner in Paris ZUR EINFÜHRUN G Wenn wir heute vom Verhältnis zwischen Jazz und der zeitgenössischen Musik sprechen, erkennen wir zwei Strömungen: Da sind zum ersten die Komponisten der Kammermusik, Sinfonik und Oper, die in viel fältiger Weise versuchten und noch versuchen. Jazzelemente in ihrer Musik zu verarbeiten. Und da gibt cs zweitens die Musiker des Jazz (Komponisten und improvisierende Inter preten in einer Person), die sich auf ihre Weise bemühten, Brücken zwischen Jazz und Sinfonik zu schlagen. Dieser zweite Weg war insgesamt erfolgreicher als der erste, der dennoch mehrere Werke hervorbrachte, die so wertvoll sind, unser Leben zu verschönen und zu bereichern, wie das mit dem Programm unseres heutigen Konzertes bewiesen wird. Jazz unterscheidet sich von unserer europäischen Musik durch Improvisation, Swing und Tonbildung. Dazu ist im einzelnen zu sagen: 1. Es ist schlechthin unmöglich, daß unsere Sinfonieorchester mit rund 80 bis 100 Mu sikern gemeinsam improvisieren. Das wäre allenfalls bei Kammermusikgruppen möglich. Dort tun es die Musiker nicht, weil sic es nicht können. 2. Das Gefühl für „swing“ ergibt sich aus der Differenz zwischen gelebter und gemesse ner (metronomischer) Zeit. Auch diese scheinbare Ungenauigkeit ist mit unserem Kon zertieren und Musizieren nicht zu vereinen. 3. Die Tonbildung im Jazz (gesteigerte Ausdrucksintensität, persönliches Vibrato, bewußt ,unsaubere* Spielwcise) ist unserem Ton- und Klangideal entgegengesetzt. Viele Komponisten waren bestrebt, ihre Musik durch Jazzclemente zu bereichern: Claude Debussy, Maurice Ravel, Paul Hindemith, Igor Strawinsky, Kurt Weill, George Gersh win und Ernst Krenck, der 1956 bekannte: „Es scheint, daß wir anno dazumal etwas zitierten, was wir in unserer Unschuld für Jazz hielten.“ Und Dave Brubcck war es wohl, der diese Bestrebungen insgesamt mit der „Rondo-alla-turc-Bewegung“ oder „Rondo- ungarese-Bewegung“ des 17. und 18. Jahrhunderts verglich, wo es zum guten Ton gehörte, ein Rondo in ungarischer Art zu schreiben. Die Dresdner Philharmoniker Was vom Jazz übernommen wurde, muß als Bereicherung angesehen werden: Die syn kopierte Rhythmik bei Strawinsky (Ebony Concerto), die tänzerische Auflockerung im Sinne des Jazz bei Milhaud (Die Erschaffung der Welt), die Bluesatmosphäre bei Gersh win (Ein Amerikaner in Paris) und die Verschmelzung von Sinfonieorchester und Jazzband bei Liebermann. Die Versuche, vom Jazz aus zur Sinfonik und Kammermusik vorzustoßen, bilden ins gesamt ein reiches und schönes Kapitel der Musikgeschichte: Stan Kentons „Innovations in modern music“, Duke Ellingtons „Shakespeare-Suite“, desgleichen die Bestrebungen, barocke Formen als reinen Jazz zu spielen: Invention, Kanon und Fuge beim „Modern Jazz Quartett“. Wer kennt von den Besuchern der Philharmonischen Konzerte diese Musik? Hier gibt es noch viel zu entdecken. Howard Brubeck hat in seinen „Dialogen für Jazzcombo und Sinfonieorchester“ erfolg reich ein zum Teil improvisierendes Jazzquartett (gleichsam als barocke Concertino- Gruppe) mit dem sinfonischen Orchester vereint. Die Zukunft wird hier noch viel Über raschungen für uns bereithalten, denn (zitiert nach J. E. Behrendt) „Zur Kunst in der Tradition gehört allemal Freiheit und zur Kunst in der Freiheit allemal Tradition.“ Rolf 'Liebermann wurde 1910 in Zürich geboren, studierte Rechtswissenschaft und sattelte später zur Musik um. Fiermann Scherchen und Wladimir Vogel wurden seine Lehrer. Mitarbeit am Rundfunk Zürich. Seit Jahren Generalintendant der Staatsoper Hamburg, wo Gunter Schuller in Liebermanns Auftrag an einer Jazz-Oper arbeitet. Liebermanns Opern „Leonore 40/45“, „Penelope“ und „Schule der Frauen“ fanden weltweiten Wider hall, desgleichen sein „Furioso“ für Orchester und sein 1954 uraufgeführtes Konzert für Jazzband und Sinfonieorchester. Rolf Liebermann schrieb über dieses Werk: „Das Jazz orchester wird in Anlehnung an vorklassische Formen als .Concertino* eingesetzt, während das Sinfonieorchester begleitende Funktionen und eigene Aufgaben in Zwischenspielen übernimmt. Das ganze Stück ist auf eine zu Beginn exponierte Zwölftonreihe aufgebaut und in strengster Zwölftontechnik komponiert. Diese konsequent durchgehaltene Einheit des Materials soll die Bindung der beiden Ebenen sichern. Folgende drei klassische Jazzformen wurden ■verwendet: der ,Jump‘, der ,Blues* und der ,Boogie Woogie*. Da diese drei Tanztypen metrisch alle auf dem 4 /4-Takt beruhen, wurden die orchestralen Zwischenspiele des Sinfonieorchesters hauptsächlich auf unregelmäßige Metren (3, 5, 7. 9) aufgebaut. Am Schluß finden sich die beiden Orchester in einem südamerikanischen Tanzrhythmus, dem Mambo.“ Fritz Reiner, vor Fritz Busch Dirigent der Staatsoper Dresden, bekannte nach der von ihm dirigierten Aufführung in Chicago: „Seit 150 Jahren gehen Tanzmusik und klassische Musik ihre eigenen Wege. Heute abend habe ich zu zeigen versucht, daß beide Musik gattungen eng miteinander verbunden sind.“ Daritts Milhaud („Ich bin ein Franzose aus der Provenc und jüdischen Glaubens“) schuf an die 400 Werke. Und etwas von der Sonne Südfrankreichs liegt über seiner Musik, die stilistisch nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Ernst Krenck: „Es ist immer eine gute, warme, innerliche Musik, wie der Mensch, der sie gemacht hat.“ Seit Jahren ist Darius Milhaud durch eine Lähmung an den Rollstuhl gefesselt. Das hindert ihn nicht, weiterhin zu komponieren, zu unterrichten und (im Sitzen) zu dirigieren. Triumph menschlichen Willens 1 Die Anregungen für das Ballett „La creation du monde“ (Die Erschaffung der Welt) empfing Milhaud 1922 auf einer Amerikareise. Er hörte Jazzbands und lernte die Spi rituals der Neger kennen. Nach einem Szenarium von Blaise Cendrar schuf Milhaud eine Ouvertüre und fünf Sätze, die ineinander übergehen. Zur Handlung des Balletts: Im ersten Satz Schilderung des Chaos vor der Schöpfung. Beschwörungen der Götter (Jazzfuge im Rhythmus einer Rumba). Zweiter Satz: In der Gruppe der Tanzenden erkennen wir Tiere. Ein Baum ersteht. Die Erde beginnt zu leben. Rückgriff auf die Ouvertüre. Eine Bluesmclodie der Oboe wird kontrapunktiert durch Elemente der Jazzfuge. Dritter Satz: Tanz der Tiere um die Götter. Aus der Masse der Tänzer lösen sich Mann und Frau. Das Bluesthema der Oboe wird in den Streichern variiert. Vierter Satz: Mann und Frau begehren einander. Rauschhafter Tanz. Soloepisoden der Klarinette, Oboe und des Saxophons. Fünfter Satz: Die Tanzenden lösen sich. Mann und Frau bleiben engumschlungen zurück. Noch einmal erklingen die Themen der vergangenen Sätze. Es ist Frühling. Ruhig, verhalten und gelöst verklingt das Werk.