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DeilW M WcikmtzMlmg. Nr. 82. Donnerstag, den 20. Juli 1905. 71. Jahrgang. Fünfunddreitzig Jahre. Zum ty. Juli. Am heutigen Mittwoch sind 35 Jahre verstrichen seit dem denkwürdigen Tage, wo die französische Kriegs erklärung in Berlin überreicht wurde. Der sofort einbe rufene norddeutsche Reichstag gab durch die unbeschränkte Bewilligung der erforderlichen Kriegsmittel der nationalen Begeisterung des Volkes Ausdruck. König Wilhelm ging zur stillen Einkehr in sich selbst in das Mausoleum zu Charlottenburg, um an dem Grabe der vielgeprüften und einst unter französischer Anmaßung schwer duldenden Eltern im Gebete »sich zu stärken zu dem schweren Kampfe mit dem Neffen des Mannes, der im Siegesübermute einst das Herz der Königin Luise tödlich getroffen hatte. Und an demselben Tage ward auch das Ehrenzeichen der Frei heitskriege erneuert; das eiserne Kreuz sollte wiederum für Tapferkeit gegen Frankreich verliehen werden. „Das ist gerade wie 1813" — hatte König Wilhelm bei dem jubelnden Empfange in Berlin geäußert. Ja, es mar eine große Zeit wie 1813, und wem es vergönnt mar, sie mittätitz zu durchleben, dem wird das Herz wieder jung werden bei der Erinnerung an die großen herrlichen Tage. Ein Wille, eine Begeisterung, ein todesmutiger Entschluß durch alle Gauen unseres Vaterlandes, ein Puls schlag durch das ganze deutsche Volk von der Sennhütte der bayrischen Alp bis zum Fischerhaus am Nord- und Ostsecstrand, von dem Rheinstrom bis zur Meinel. Jugendliches Feuer der Begeisterung in dem ermatten den Auge des Veteranen der Befreiungskriege, männliche Entschlossenheit und heiliger Kampfesmut in dem kaum )em Knabenalter entwachsenen Jüngling! Wer das sah, der konnte es wohl verstehen, warum immer und immer wieder das markige Lied von der „Wacht am Rhein" er klang. Es war richtig, was ahnend Mar Schneckenburger bereits im Jahre 1840 gesungen hatte: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall, Wie Schmertgeklirr und Wogenprall Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein! Wer will des Stromes Hüter sein? Lieb Vaterland, magst ruhig sein, Fest steht und treu die Wacht am Rhein!" Alldeutschland trat an zur Wacht am Rhein. So hoch aber auch die Wogen der Begeisterung und der Kampfesfrcude gehen mochten, ein heiliger, weihevoller Ernst lag über der ganzen Nation. Kein übermütiges Prahlen, kein vorzeitiges Frohlocken wurde laut — alle traten mit dem Gefühle in den Kanipf, daß er schwer und ernst sein werde. Mutig drangen unsere Heere über den Rhein, und wo sie mit den, Feinde handgemein wurden, da heftete sich der Sieg an ihre Fahnen. Der herrliche Sicgespreis aber war die deutsche Kaiserkrone. An diesem Gedenktage wollen wir auch derer nicht vergessen, die todesmutig ihr junges Leben für des Vater landes Ehre zum Opfer brachten. Die Erinnerung an sie überdauert ihren Tod. Ihr Beispiel redet zu uns ein dringlicher, als irdische Stimmen es vermögen. Die zahl reichen Grabhügel in den Reichslanden und jenseits der Vogesen im Herzeü Frankreichs richten die stumme Frage an uns und an das Heranwachsende Geschlecht, ob wir das Unsrige getan haben, um den mit teuerm Blute er kauften Siegespreis sicherzustellen gegen einen etwaigen neuen Angriff von außen, sowie uni das Reich innerlich zu stärken, damit deutsche Ehre und deutsche Waffen jeder zeit so hell erglänzen wie damals. Freilich hat das große Jahr im deutschen Fühlen und Denken einen gewaltigen Umschwung herbeigesührt. In neuem Glanze steht das Deutsche Reich unter den Völkern der Erde da, festgefügt und wohl bewacht durch die Sorge des Kaisers und das deutsche Schwert; aber der Geist der nationalen Zwietracht macht sich wieder bemerkbar. Um ihn zu bannen, dazu soll uns helfen neben der Erinnerung an die große Zeit vor fünfunddreißig Jahren der Hin weis auf das Erbe unserer Väter, das in uns fortlebt, und für das zu kämpfen die heiligste Pflicht jedes deutschen Mannes ist. Tagcsgeschtchie. — Wegen Verrufserklärung waren vom Kieler Schöffengericht die Vorstandsmitglieder der Vereinigung der Barbiergehilfen zu je zwei Tagen Gefängnis verurteilt worden, weil sie in dem dortigen sozialdemokratischen Organ durch Inserat mitteilten, daß über das Geschäft eines bestimmten Barbiers die Sperre verhängt worden sei. Die Strafkammer hatte sich als Berufungsinstanz mit dem Fall zu beschäftigen. Seitens der Angeklagten war geltend gemacht worden, daß eine strafbare Verrufs erklärung nicht vorliege, da 8 153 der Gewerbeordnung nur auf die Verrufserklärung gleicher Klassen unterein ander — Arbeitgeber gegen Arbeitgeber, Arbeitnehmer gegen Arbeitnehmer — Anwendung finden könne. Das Gericht war jedoch anderer Ansicht. Nach dem angezogenen Paragraphen der Gewerbeordnung werde unter anderem jeder mit Gefängnis bestraft, der andere durch Verrufser klärung zu bestimmen versuche, an Verabredungen teilzu nehmen u. s. w. Diese Voraussetzung aber liege hier vor, da die Angekagten dem betr. Barbier mit der Sperre ge droht hätten, falls er den Tarif nicht anerkenne. Die ein gelegte Berufung wurde deshalb verworfen. Großbritannien. Über die Mißwirtschaft in der Armee, die erst kürzlich durch die Skandale in Südafrika beleuchtet wurde, wird der „D. Tagesztg." aus London geschrieben: Der vor einigen Tagen veröffentlichte eng lische Armeebefehl, der anordnele, daß die weitere Her stellung der neuen Gewehre kurzen Kalibers eingestellt werden sollte, hat wieder einmal einen sehr ernsten Miß griff des englischen Kriegsministeriums enthüllt — einen Mißgriff, der der englischen Nation viele Tausende Pfund Sterling kosten wird. Wie dies in England nachgerade selbstverständlich ist, handelt es sich auch diesmal wieder um ein Versehen, das einer Leichtfertigkeit entsprang und das bei einiger Vorsicht sehr wohl hätte vermieden werden können. Das neue Gewehr wurde adoptiert, noch ehe es gehörig geprüft war, und im Handumdrehen wurden riesige Maschinerien in den mit der Herstellung der neuen Flinte betrauten Gewehrfabriken aufgestellt, die das neue Modell gleich in Massen produzierten. Tausende von diesen kurzen Gewehren waren bereits nach Indien ver schifft und tausende in den heimatlichen Depots aufge stapelt, da kam das englische Kriegsministerium erst da hinter, daß die neue Waffe nicht brauchbar sei und daß sie fast in jeder Hinsicht hinter dem Lee-Enfield-, dem Mannlicher- und dem Mauser-Gewehr an Wirksamkeit zurückstände. Der erste Versuch mit dem kurzen Gewehr wurde unter Aufsicht des in Verbindung mit dem letzten