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Bcila-k Ml Wchmh-Mmig 68. Jahrgang. Donnerstag, den 29. Mai 1902. Nr. 59. ^'4 Nochmals über die Frage der Errichtung einer Selekta. Im Anschluß an den Artikel in Nummer 31 unseres Blattes schreibt man uns aus Dresden: „Vor einiger Zeit nahm ich mir die Freiheit, Ihrem geschätzten Blatte meine Ansicht über die etwaige Gründung einer Selekta in Ihrer Stadt zur Veröffentlichung zu übergeben, weil ich der Meinung war, daß eine so tief einschneidende Neuerung im Schulwesen das Interesse weitester Kreise in Anspruch nehmen darf. Ich freue mich zu hören, daß der Artikel nicht ohne Beachtung geblieben ist. Wenn nun derselbe der Natur der Sache nach damals wesentlich negativer Art sein mußte, so wird es mir heute, nachdem - ich vor wenigen Tagen Gelegenheit hatte, einen mit dem sächsischen Seminarwesen sehr vertrauten Herrn zu sprechen, zur angenehmen Pflicht, Ihnen einen positiven Vorschlag zu unterbreiten, der die Lösung der schwebenden Frage enthalten dürfte. Der springende Punkt und die treibende Kraft in der ganzen Angelegenheit ist zweifellos der Wunsch nach fremdsprachlichem, insbesondere neusprachlichem Unterricht, denn der letztere liegt nicht sowohl im Interesse einiger weniger Familien, die ihre Söhne später einer höheren Schule zuführen wollen, als vielmehr im Streben nach steigender Bildung überhaupt, das sich Heuzutage aller > Orten geltend macht. Dieses Vedürfniß ist sicher der Be achtung maßgebender Kreise werth. Freilich bleibt die ' Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, einen tüchtigen, akademisch gebildeten Sprachlehrer zu gewinnen, bestehen, wenn Ihre Stadtvertretung nicht eine Summe aufwenden will, die weit über das hinausgeht, was man in kleineren Orten an Gehältern zu zahlen gewöhnt ist. Daß mittlere Städte im Stande sind, eine Realschule zu unterhalten, wird ihnen nur durch namhafte Staatsunterstützungen X möglich. Und auch diesen Städten wirds oft schwer ge macht. Wenn Sie einen Blick in den „Pädagogischen Zentral-Anzeiger" oder in die „Pädagogische Vakanzen- 4 Zeitung", welche beiden Blätter der akademisch gebildeten Lehrerwelt hauptsächlich zur Stellenvermittelung dienen, werfen könnten, so würden Sie spaltenlang die stereotypen Annoncen finden: „Sprachlehrer gesucht." Bei aufmerk samer Beobachtung könnten Sie auch lesen, wie nach einigen Wochen derselbe Magistrat dieselbe Stelle mit be deutend erhöhtem Gehalte ausschreibt; Beweis genug, daß er eben keinen Bewerber gefunden hat. Es ist ja auch bei der geradezu sprunghaften Entwickelung des höheren Schulwesens gar kein Wunder, daß die akademisch gebildeten Lehrer fehlen. Mein der Besuch der sächsischen Realschulen ist im letzten Jahrzehnt von 38 lO (Schuljahr 1890—18dl) auf 9680 Schüler (Bestand am 1. Mai 1901) gewachsen. Dazu kommt das Wachsthum der Gymnasien, Realgymnasien, Seminare und höheren Töchterschulen und ein merklicher Abfluß akademisch ge bildeter Lehrer ins Ausland, namentlich nach Preußen, wo die Gehaltsverhältnisse zum Theil noch bessere sind. Der gegenwärtige Zustand ist also durchaus erklärlich, und er wird noch Jahre andauern. Sollten Sie aber wider Erwarten einen Sprachlehrer mit verhältnißmäßig bescheidenen Ansprüchen finden, oder sollte Ihnen ein solcher „empfohlen" werden, so dürfen Sie felsenfest über zeugt sein, daß es da irgendwo hapert, und daß Sie sehr bald in die wenig angenehme Lage kommen würden, denselben angelegentlichst „weiter zu empfehlen". Was aber nun thun, um dem Vedürfniß nach fremdsprachlichem Unterricht zu genügen? Am verhältnißmäßig einfachsten wäre es ja noch, wenn Sie auf lateinischen Elementar unterricht zukommen würden, denn es kann sich hier nur um die Elemente, etwa das Pensum der Serta, handeln. Alle Seminaristen gehen ja durch einen sechsjährigen lateinischen Kursus: sie lesen Cornel, Cäsar, Ovid und auch etwas Cicero und dürften also wohl im Stande sein, in einem Elementarkursus ersprießliche Erfolge zu er zielen. Wenn sie also bei einem etwaigen Stellenwechsel im Lehrerkollegium Ihrer Stadt Ihr Augenmerk auf einen jungen Mann mit guter Sprachenzensur richteten, so würden Sie haben, was Sie brauchen, ohne besondere Kosten. Schwieriger liegen die Verhältnisse in Bezug auf neusprachlichen Unterricht; hier müssen sich ja auch die großen Städte (z. B. Dresden mit seinen 12 Bürger schulen) nur mit Autotidakten behelfen. Darin ist nun in neuester Zeit ein Wandel eingetreten, oder er tritt vielmehr erst ein; und das ist der eigentliche Anlaß zu meinem Schreiben. — Das Königliche Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts hatte, um dem drohen den Mangel an Volksschullehrern vorzubeugen, vor zwei Jahren an die Realschulabiturienten die Aufforderung ge richtet, sich dem Lehrerberufe zu widmen, und ihnen einen nur dreijährigen Seminarkursus in Aussicht gestellt. Dieses Anerbieten ist denn auch von dem Erfolg begleitet gewesen, daß an zwei Seminaren, darunter Dresden- Friedrichstadt, derartige Klassen eingerichtet werden konnten. Diese jungen Leuts befinden sich jetzt in Prima. Sie haben nach Absolvirung ihrer Seminarzeit, unter Weg fall des sonst lehrplanmäßigen Lateinisch, einen neun jährigen Kursus im Französischen und einen sechsjährigen im Englischen hinter sich. Sie sind in diesen Fächern auch methodisch ausgebildet und dürften demnach hervor ragend befähigt sein, an Schüler im volksschulpflichtigen Atter neusprachlichen Unterricht zu ertheilen. Diese Seminaristen werden, des Bedürfnisses halber, ihre wissen schaftliche Prüfung bereits zu Michaelis ablegen, darauf hin provisorisch entlassen werden, ihre praktische Lehrer prüfung zu Ostern nachholen, worauf dann der definitive Abgang vom Seminar erfolgt. Durch geeignete Schritte bei der König!. Bezirksschulinspektion dürfte es nicht allzu schwer halten, zu Michaelis oder Ostern Ihren derzeitigen Hilfslehrer gegen einen neusprachlich gebildeten zu ver tauschen. Die durch Einführung des Sprachunterrichts entstehenden Ueberstunden müßten natürlich auf alle Glieder Ihres Lehrerkollegiums vertheilt werden. Es würden auf keinen mehr als eine bis zwei kommen, die auch aus den Unterrichtsbeiträgen der Schüler gut hono- rirt werden könnten, ohne das Stadtsäckel irgendwie zu belasten. Der Unterricht wäre allerdings nur zunächst auf drei Jahre gesichert. In dieser Zeit könnte aber die Stadtvertretung genau erkennen, wie groß und vor allen Dingen auch, wie dauernd das Vedürfniß nach fremd sprachlichem Unterricht ist, und fernere Maßnahmen treffen. Gewiß würde sich auch der betreffende junge Mann, wenn die Gehaltsverhältnisse der Lehrer in Dippoldiswalde befriedigende sind, woran ich bei dem geradezu idealen Interesse, das man dort Schulfragcn entgegen zu bringen scheint, nicht zweifle, Ihrer freundlichen Stadt, in stän diger Stellung dauernd erhalten lassen.