Volltext Seite (XML)
1. Mai 1900. Referate und kleinere Mittheilungen. Stahl und Eisen. 505 Fachstudium übrig. Was sind aber zwei Jahre für die Fülle der vorhin angegebenen Gebiete! Es ist eine traurige Erfahrung aller Hochschullehrer, die mit der tieferen fachlichen Unterweisung betraut sind, dafs sie ihre Studenten nicht auf diejenige Höhe der Wissen schaft führen können, auf der ein voller Ausblick über das in der Gegenwart Erreichte erst möglich ist. Be denklicher noch sind die Anklagen, welche die In dustrie gegen uns richtet, dafs wir unsere Studenten vielfach mit ungenügender Fachbildung entlassen. Hier liegen ernste Gefahren vor, und sie rühren lediglich daher, dafs die Vorschule für die Mehrzahl unserer Studenten, das humanistische Gymnasium, für unsere. Studien ungeeignet ist. Wir hoffen, dafs es möglich sein wird, Abhülfe zu schaffen, und die technischen Hochschulkreise blicken voll Hoffnung und Vertrauen auf unseren neuen Herrn Minister, weil wir erwarten, dafs er diese Frage beherzt und energisch in Angriff nehmen wird. Eine Verlängerung des Studiums könnte vielleicht vorgeschlagen werden. Das ist aber so gut wie aus geschlossen, sie wird von keiner Seite gewünscht. Es wird sogar vielfach Klage darüber geführt, dafs unsere jungen Leute im Gegensätze zum Auslande viel zu spät in ihren Beruf eintreten. Während der junge Mann in England und Amerika mit 25 Jahren nicht selten eine verantwortliche Stellung in der Industrie bekleidet, kommen unsere jungen Leute selten vor Mitte der dreifsiger Jahre dazu, einen eigenen Haus stand zu begründen. Ein gut Theil der heute be klagten moralischen Schäden in unserem Volksleben dürfte darauf zurückzuf uhren sein. Eine Verlängerung des Studiums wird also niemand wollen, am wenigsten die Väter, aus leicht begreiflichen Gründen. Wie kann uns nun geholfen werden? Wir müssen Spielraum zu gewinnen suchen nach unten, wir müssen einen Theil der vorbereitenden Studien auf die höheren Schulen verweisen. Nun, m. H., wir haben eine solche Schule, die Ob errealsch ule. Sie würde bei ge eigneter Organisation das schon leisten können, was wir wünschen. Aber ich habe Ihnen ja die Zahlen vorgelesen; sie beweisen, dafs diese Schulen wenig besucht werden, und Sie wissen, dafs sie nicht ge deihen können. Und warum können sie nicht ge deihen? Es ist das leidige Berechtigungsunwesen, das hier entgegensteht. (Sehr richtig!) Die kleineren Städte, die sich den Luxus nur einer höheren Schule gestatten können, müssen nothgedrungen zum huma nistischen Gymnasium greifen; sie würden anderenfalls die Interessen ihrer Bürgerschaft auf das schwerste verletzen. Nun, in. H., welche Wege soll man einsehlagen, um diese Uebelstände zu beseitigen ? Die beiden Wege, die ich nennen kann, sind Ihnen Allen bekannt; ich kann Ihnen nichts Neues sagen. Wir sind aber wohl einig darin, dafs diese, Mittel radicale sind und dafs sie thatsächlich Hülfe bringen. Der erste Weg, den man beschreiten könnte, ist der sicherste; er läfst sich heute so gut wie morgen beschreiten, und zwar ohne grofse Umwälzungen, ohne grofse Erregung im Lande, ohne eine Umgestaltung der Lehrpläne der höheren Schulen. Dieser Weg besteht darin, dafs man die Vorrechte der Gymnasien mit einem Federstrich beseitigt, dafs man allen drei höheren Schulen die gleichen Berechtigungen ertheilt, ihre Abiturienten zu allen Studien an den Universitäten und Hochschulen zu entlassen. Man überlasse es den Studenten, die erforderlichen Vorkenntnisse, die der erwählte Beruf verlangt, sich zu verschaffen, wie und wo sie wollen. M. H., ich befürchte nicht, dafs allzuviel Oberreal schüler sich dem Studium der Philologie zuwenden werden, und sollte es doch einer thun, so hat dieser sicherlich eine solche Befähigung für dieses Fach, dafs ihn die Philologen mit Geld aufwiegen müfsten, wenn er zu ihnen kommt. Der Mann wird sich schon weiter helfen. Es wird immer gesagt, die Ausbildung der Staatsbeamten könnte Schaden nehmen. Nun, m. H., es handelt sich um die Juristen, sagen wir es doch offen heraus. Es giebt in unserm Staatsleben zwei Arten von Juristen. Die einen, die Vertreter der eigentlichen Jurisprudenz, müssen tief hineinsteigen in das römische Recht; das glaube ich wohl. Aber, in. H., die zahl reichen Verwaltungsbeamten, die in der Regierung sitzen, haben nicht alle mit der Jurisprudenz zu thun. Ich kenne viele höhere Verwaltungsbeamte, die blut wenig damit zu thun haben; dagegen haben sie alle Tage die schwerwiegendsten Entscheidungen über tech nische Dinge zu treffen, und die Herren sind vielfach nicht in der Lage, die Verhältnisse allseitig richtig übersehen zu können, sondern sie sind angewiesen auf den Rath mehr oder weniger guter Sachverständiger, denen sie blindlings folgen müssen. Das sind doch keine gesunden Zustände; ich kann es mir vielmehr erspriefslicher denken, wenn in Zukunft unsere Ver waltungsbeamten zum Theil aus streng juristisch ge bildeten Elementen und zum andern 'fheil ans juristisch gebildeten Verwaltungsingenieuren beständen. So denke ich mir die Zukunft unserer Verwaltung, und ich glaube, wir brauchen dabei keine Sorge zu haben. M. H., ich sagte vorhin, die Beseitigung der Vor rechte der Gymnasien würde sich ohne Störung voll ziehen. Gewifs; aber, m. H., die Folgen, welche wir in 10, 20 Jahren erleben würden, die würden ganz gewaltige sein. Ich glaube, darüber sind wir alle einig: ein grofser Theil der Gymnasien, die Ueberzahl, würde verschwinden. Die Gym nasien würden reducirt werden auf diejenige Zahl, welche dem Bedarf entspricht, dem Bedarf derer, die ein Studium erwählen, für welches die Kenntnifs der alten Sprachen unerläfsliche Vorbedingung ist. Die humanistischen Gymnasien selber würden dabei nur gewinnen. Es würde aber auch aufhören der Dünkel, der heute leider die humanistische Bildung zur vor nehmeren stempelt, und das ist des Pudels Kem. Das ist gerade für viele Gegner der neueren Richtung, die ich liier vertrete, die Veranlassung zu ihrer Gegner schaft. Nichts bezeichnet aber deutlicher das in sich Haltlose und Unwahre der bisherigen Zustände. Un vergängliches Verdienst würde sich die Unterrichts verwaltung erwerben, wenn sie das neue Jahrhundert mit einer erlösenden That in dieser Richtung inaugu- riren wollte. Thatsächlich hat ja die Unterrichtsverwaltung schon diesen Weg beschritten; es ist nur das Tempo und die Ueberzeugungskraft, welche weite Kreise im Lande beunruhigt. Anstatt mit einem kräftigen Schnitt die ungesunden Vorrechte zu amputiren und dem gym nasialen Körper die langentbehrte Ruhe zu verschaffen und den im übrigen kerngesunden Theil desselben dem Heilungsprocefs zu überlassen, hat man das Mittel der kleinen Dosen gewählt, das Abbröckeln, die fortgesetzte Beunruhigung. Das schafft Unzufriedenheit auf allen Seiten und schadet am meisten dem humanistischen Gymnasium. Noch jüngst ist die Unterrichtsverwaltung dafür eingetreten, dafs den Realgymnasiasten der Zu gang zum medicinischen Studium erleichtert werde, indem die Nachprüfung im Griechischen erlassen werden soll. Die Nachprüfung im Lateinischen hat man be stehen lassen, als ob die lateinischen Kenntnisse unserer Realgymnasiasten nicht ausreichten, die lateinische Nomenclatur und die Recepte der Aerzte zu verstehen. Das ist eine Politik der kleinen Mittel; einen Stein hat man vom Wege aufgenommen, aber den Zaun hat man belassen, es ist allerdings nur noch ein morscher Lattenzaun. M. H., aufser diesem Wege giebt es noch einen zweiten, der in der Stadt Frankfurt a. M. so erfolgreich beschritten ist. 32 Reformschulen nach dem Frank furter System sind bereits im Lande entstanden. Mögen