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2. Beilage zu Nr. 142. Donnerstag, dm 6. Dezember 1894. 60. Jahrgang. Tagesgefchichte. — Zur feierlichen Einweihung deS neuen Reichs - tagSgebäudeS ist auf besonderen Befehl des Kaisers auch der erste Präsident des Reichstages, der greis« vr. v. Simson, geladen worden. Der gleichfalls ge ladene erste Kanzler des Reiches, Fürst Bismarck, dem bei der Schlußsteinlegung noch eine besondere Ehrung zugedacht war, indem er gleich nach den Prinzen des königlichen Hauses die drei Hammerschläge thun sollte, ist leider durch das Ableben seiner Gemahlin verhin dert, an der Feier theil zu nehmen. Vom Tage der Eröffnung des ersten Reichstags datirt sein Fürsten diplom und in der offiziellen Ladung ist auch der Fürstentitel dem später im März 1890 verliehenen Herzogstitel vorangesetzt. Fürst Hohenlohe, der jetzige Kanzler deS Reiches, hatte bekanntlich in dem ersten Reichstage die erste Vizepräsidentenstelle eingenommen. Von den ersten Präsidenten de- Reichstages ist von Forckenbeck schon vor mehreren Jahren gestorben. Herr v. Goßler, der dann, nachdem Graf Arnim-Boitzen- burg die Wahl abgelehnt hatte, erster Präsident wurde, ist jetzt Oberprästdcnt von Westpreußen, Herr v. Wedel- PieSdorf, Minister deS kgl. Hauses. Herr v. Lsvetzow, der schon nach Herrn v. Goßlers Beförderung zum Kultusminister zum Präsidenten gewählt war, hat diese Stelle nach Herrn v. Wedels Rücktritt aus dem par lamentarischen Leben ununterbrochen innegehabt. — Dem Vernehmen nach ist über die bei den Verhandlungen im Reichstage erörterten Schwierig keiten dec Ausdehnung des Dienstaltersstusensystems auf die Beamten der Post- und Telegraphenverwaltung nunmehr eine Verständigung erzielt, so daß demnächst auch der gesammte Beamtenkörper der Post- und Telegraphenverwaltung in das Dienstaltersstufensystem einbezogen werden soll. — Zur Zeit bestehen Handelsverträge mit Konventionaltarifen zwischen Deutschland und folgenden acht Staaten: Oesterreich-Ungarn, Italien, Schweiz, Belgien, Rumänien, Serbien, Griechenland ur-d Ruß land. Der Vertrag mit Griechenland, dessen Ratifika tionsurkunden am 30. Februar 1885 ausgetauscht sind und der auf zehn Jahre abgeschloffen ist, kann am 20. Februar k. I. gelöst werden, falls innerhalb zehn Tagen nach dem 20. Februar k. I., also bis Anfang März k. I. von einer Seite eine Kündigung erfolgt. Falls solche Kündigung, was anzunehmen ist, nicht erfolgt, so besteht der Vertrag weiter. Außer den vorstehend genannten Staatsverträgen mit Kon ventionaltarifen bestehen gegenwärtig noch Meist begünstigungsverträge mit folgenden Staaten: die argentinische Konföderation, Chile, Kolumbia, Costarika, Dänemark, dominikanische Republik, Ecuador, Egypten, Frankreich (durch den Friedensvertrag zu Frankfurt am Main), Großbritannien, Guatemala, hawaische Inseln, Honduras, Korea, Liberia, Madagaskar, Ma rokko, Mexiko, Niederlande, Paraguay, Persien, Sal vador, Schweden-Norwegen, südafrikanische Republik, (Transvaal), Türkei, Bulgarien und Ostrumelien, Vereinigte Staaten und Zanzibar. In demselben handelspolitischen Verhältniß steht Deutschland mit seinen ZollauSschlüffen, seinen Kolonien und seinen Schutzgebieten. — Der Entwurf eines neuen Tabaksteuer- Gesetzes ist »unmehr festgesetzt und wird dem BundeS- rathe in diese» Tagen zugehen. Wie bereits jetzt verlautet, ist für Cigarren eine Steuer von 25 Proz.-, für Kau- und Schnupftabak eine solche von 40 Proz, und für Rauchtabak eine solche von 50 Proz. in diesem Entwürfe in Aussicht genommen. Die Steuer soll erhoben werden, sowie die in den bestimmten Räumen hergestellten Maaren diese verlassen. Zur Zahlung der Steuer soll jeder Fabrikant verpflichtet sein. — In sonst gm unterrichteten Kreisen verlautet nachträglich, daß der negative Erfolg, den man mit den 4. Halbbataillonen gemacht hat, sehr wesentlich zur Erschütterung der Stellung des Grafen von Caprivi detgetragen habe. Der ehemalige Reichskanzler war es, der den zweifelnden obersten Kriegsherrn bestimmte, seine Zustimmung zu der Errichtung der 4. Bataillone zu geben, die sich in der Folge als eine völlig ver fehlte Institution erwiesen haben. Nicht ohne Einfluß auf die Stellung deS zweiten Kanzlers war bekanntlich auch die, namentlich in letzter Zeit allem politischen: Takte hohnsprechende Haltung und die Zerfahrenheit^ der offiziösen Presse. — Ueber die Räume im neuen Reichstagsgebäude klagen die Journalisten. Der ihnen zugemeffene Platz ist nicht gröber, als er im alten Hause war, und dort herrschte ost bekanntlich ein Gedränge, daß ein Mitschreiben fast zur Unmöglichkeit machte und mit Störungen mancherlei Art verbunden war. „Was nützt es," so klagt die „Börsen-Zeitung", „daß den Berichterstattern ein eigener Erfrischungsraum mit schönen Wandgemälden überantwortet werden wird, unter denen der Ente das Vorrecht eingeräumt wurde; ihre Zeit ist zu knapp, um lange Erholungspausen zu gestatten, und zwar jetzt um so mehr, da das Reichs- tagsgebäube allen Redaktionsbureaus ferner liegt. ES wird daher um jeden Preis Abhilfe geschaffen werden müssen." — Eine lehrreiche Statistik ist in der Schrift: Die Entwickelung der Sozialdemokratie bei den Wahlen zum deutschen Reichstag von vr. Neumann-Hofer er schiene». Wir entnehmen daraus einige Angaben: Im Jahre 1871 wurden in 29 Kreisen überhaupt keine sozialdemokratischen Stimmen abgegeben, diese Zahl verminderte sich fortwährend, bis bei den vor jährigen Wahlen nur noch 16 solcher Wahlkreise vor handen waren. Während die Sozialdemokraten vorher in Stichwahlen nur in ganz vereinzelten Fällen siegten, drangen sie seit 1878 in wachsender Zahl auch in Stichwahlen durch. 1878 gewannen sie auf solche Weise sieben, 1881 dreizehn, 1887 wieder nur fünf, dagegen 1890 fünfzehn, 1893 zwanzig Mandate. Würde statt des bisherigen das Proportionalsystem eingeführt, so müßten der Sozialdemokratie 92 statt 44 Mandate zufallen, eine Warnung für die Verehrer dieses Systems.. Ganz hervorragend sind die Sozial demokraten an den Mandaten der größten Wahlkreise betheiligt; von 86 solchen besitzen sie 32, oder 73 Prozent ihrer gesammten Vertretung. Dies erklärt sich sehr einfach durch die Thaisache, daß die Sozial demokratie in den volkreichen Industriestädten ihren fettesten Boden hat. Von den 75 kleinsten Wahlkreisen, die eine überwiegend klein-städtische und ländliche Bevölkerung haben, besitzen sie nur zwei. Es geht auS dieser Zusammenstellung sehr überzeugend hervor, daß die sozialdemokratische Vertretung wesentlich zurück gedrängt werden könnte, wenn nur wenigstens in den Stichwahlen die bürgerlichen Parteien fest zusammen halten wollten. Kiel. Am 3. Dezember, früh '/»9 Uhr, passirte der kaiserl. Hofzug die neue Hochbrücke bei Levensau. Nach einer kurzen Eröffnungsfeier auf der Plattform des Nordpfeilers begab sich der Kaiser mit dem Prinzen Heinrich, dem Reichskanzler, dem Staatsminister vr. v. Bötticher und dem Gefolge an Bord einer Salon pinaffe durch den Nord-Ostsee Kanal und die Neue Schleuse nach dem hiesigen Hafen. Als um 10 Uhr 20 Minuten die Kaiserstandarte in Sicht kam, gaben die Kriegsschiffe den Salut ab. Der Kaiser fuhr bei der Flottenparade die ganze Front entlang. Die Matrosen standen auf den Decken und brachen in drei maliges Hurrah aus. Die Schiffe hatten über den Toppen geflaggt. Der Kaiser stieg an der Barbaroffa- brücke ans Land und begab sich mit seiner ganzen Begleitung, worunter sich viele Generäle befanden, ins Schloß. AIS die Kaiserstandarte auf dem süd lichen Thurm emporstieg, salutirte die gesammte Flotte nochmals. — Um 12 Uhr traf sodann der Kaiser auf dem Kasernenhofe der Marineinfanterie ein und schritt mit dem Prinzen Heinrich, dem Reichskanzler Fürsten zu Hohenlohe, sowie dem Gefolge die Front der Ehrenkompagnie des 1. Seebataillons ab. Als dann fand im Exerzirhause die Vereidigung der Re kruten de: 1. Matrosen-Division, der 1. Werft-Division, der 1. Torpedo-Abtheilung und des 1. See-Bataillons statt. Nach Ansprache der Marineoberpfarrer Lang held und Wiesemann ermahnte der Kaiser die Rekruten, dem Eide im In- und Auslande treu zu sein. So dann brachte Admiral Freiherr v. d. Goltz ein Hoch auf den Kaiser aus, welch-S ein brausendes Echo bei allen Anwesenden sand. Um 12»/» Uhr begab sich der Monarch zum Frühstück nach dem Marineoffizier- Kasino, woselbst die Kapelle der 1. Matrosen-Division die Tafelmusik spielte. Weidenthal (Pfalz). AuS einer harmlosen Ge- meinderathSwahl ist hier ein wahrer Religionskrieg entstanden. Bayerische Blätter berichten darüber: IM Gemeindehause des OrteS, der 1500 Seelen, die Hälfte Katholiken, die Hälfte Protestanten, zählt, befand sich das Wahllokal. Auf Anweisung des Bürgermeisters waren die in dem Semeindehause befindlichen Schul säle geschloffen worden, um zir verhüten, daß diese Räume zur Ausfüllung der Wahlzettel benutzt würden. Dieses Verbot war durchaus verständig. Nun wohnt aber auch im Gemeindehause der katholische Lehrer, der seine Wohnung für das katholische Wahlkomitee hergab, während das protestantische außerhalb des Ge meindehauses in einer Wirtschaft Quartier nahm. Getrunken wurde sicherlich in beiden Lagern nicht all zu wenig. Die Erregung stieg immer mehr, sie er reichte den Gipfel, als Abends das Wahlergebniß be kannt wurde, wonach der Gemeinderath nur aus Katho liken besteht. Dieser Sieg der Katholiken wurde durch die Ortsschelle bekannt gegeben. Mitten im Dorfe liegen sich gegenüber zwei WirthShäuser, in dem einen, dem Schecherschen, feierten die Katholiken ihren Sieg, in dem anderen, dem Ackermannschen, suchten sich die Protestanten über ihre Niederlage zu trösten. Nach dem es schon kurz vor 8 Uhr einen Zusammenstoß zwischen beiden Parteien auf der Straße gegeben hatte, fiel gegen 9 Uhr plötzlich ein Schuß, zu gleicher Zeit wurde in der Ackermannschen Wirthschast ein Fenster eingeschlagen. Das war das Zeichen zu einem Straßen kampfe, der nunmehr mit Messern, Düngergabeln, Revolvern und Flinten geführt wurde. Beidx Gast häuser wurden zerstört. Glücklicherweise sind tödtliche Verwundungen nicht vorgekommen, dagegen viele schwere. Der Lärm nahm erst ein Ende, als die aus Lambrecht telegraphisch gerufene Gendarmerie einge troffen war und zahlreiche Verhaftungen vornahm. England. Der Dampfer „Albertine" ist am 2. Dezember Morgens bei dichtem Nebel mit einem großen unbekannten Personendampfer zusammrngestoßen. Letzterer ist, wie angenommen wird, mit sämmtlichen Personen gesunken. Die Bemühungen der ausgesetzten Rettungsboote blieben erfolglos. Der Dampfer „Al bertine" ist beschädigt in Aarmouth eingelaufen. Italien. König Humbert von Italien hat Emil Zola, den zur Zeit in Rom weilenden berühmten französischen Romancier, empfangen und sich hierbei nach verschiedenen Richtungen hin in bemerkenswerther Weise geäußert. Der König beklagte eS, daß man in Frankreich weder die Fortschritte Italiens auf allen Gebieten, noch die Thatsache anerkennen wolle, daß die Italiener nichts wie den Frieden wollten. Als ein großes Glück für Frankreich bezeichnete es der Monarch, daß an der Spitze der Republik ein so friedliebender Mann wie Casimir-Perier stünde. Dann fuhr der König fort: Niemals war Europa so friedlich und ruhig wie heute, niemals war auch der Friede so gesichert. Was Italien anbelangt, so kann es nur im Frieden leben und gedeihen. Frankreich hat alle guten Eigenschaften, um mit der ganzen Welt in Eintracht zu leben; es ist reich, glücklich, stark und genießt alle Wohlthaten des Fortschrittes. Wozu braucht es also einen Krieg? Am Ende des Gesprächs nahm König Humbert seinen Premierminister Crispi gegen die Anklage, derselbe sei ein Feind Frankreichs, lebhaft in Schutz. „Man kennt," soll er bemerkt haben, „in Frankreich seine friedlichen Gesinnungen nicht, er liebt Frankreich, hat er doch lange genug dort gewohnt, um es zu lieben und zu schätzen. Es besteht ein Mißverständniß in der fran zösischen Presse über Alles, was französisch-italienische Beziehungen betrifft, und das ist sehr bedauerlich." — Die Offenherzigkeit, mit welcher sich der italienische Herrscher Herrn Zola gegenüber speziell hinsichtlich deS Verhältnisses zwischen Italien und Frankreich ausge sprochen hat, verdient alle Anerkennung. Aber trotzdem wird sich an den bestehenden Verhältnissen nichts än dern, die Franzosen könnenesnun einmal den Italienern nicht verzeihen, daß sich dieselben der politischen Vor mundschaft Frankreichs entzogen haben und daß sie enge Freundschaft mit den Deutschen halten. — In Italien schwelgt man gegenwärtig in Ro- formen. Auf die königlichen Dekrete über die neuen organisatorischen Maßnahmen in der Heeresverwaltung sind anderweitige allerhöchste Verfügungen gefolgt, welche sich auf die Ausführung verschiedener finanz- und steuerpolitischer Maßregeln beziehen. Die mili tärischen wie die finanziellen Reformen sind durch das neue Sparsysten bedingt, welches Herr Crispi ausge klügelt hat; ob sie Italien wirklich frommen werden, das muß sich allerdings erst noch zeigen.