Volltext Seite (XML)
MWMiliW. Beilage zu Nr. 107. Dienstag, den 12. September 1893. 59. Jahrgang. Die Kaisertage in Lothringen und der russische Flottenbesuch in Toulon. Die Entsendung eines russischen Geschwaders unter Admiral Avelane nach Toulon steht also fest, nur werden nach neueren Pariser Meldungen die russischen Kriegsschiffe nicht schon am 13. September, wie es zunächst hieß, in dem südsranzösischen Kriegshasen er scheinen, sondern erst gegen den 26. oder 27. Sept. Lange genug hat es demnach gedauert, ehe sich die russische Regierung definitiv entschloß, den Franzosen diese „Revanche für Kronstadt" zu geben, denn beinahe zwei Jahre find seit dem berühmten französischen Flottenbesuche in der gewaltigen Ostseefeste Rußlands verstrichen, und manchmal schien es sogar, als sei die Absicht eines russischen Gegenbesuches in Frankreich für Kronstadt überhaupt aufgegeben. Um so größer ist aber begreiflicher Weise jetzt die Freude jenseits der Vogesen, daß nun die Erwiderung der französi schen Flottenfahrt nach der russischen Ostsee doch noch in Scene gehen wird und in Paris wie in Toulon trifft man bereits umfassende Vorbereitungen, um den Empfang der russschen Gäste so glänzend wie möglich zu gestalten und ihm den Charakter eines neuen russisch-französischen Verbrüderungsfestes zu verleihen. Was aber den Franzosen in der Angelegenheit eine besondere Genugthuung bereitet, ist der Umstand, daß der angekündigte Gegenbesuch eines russischen Ge schwaders zeitlich ungefähr mit den Kaisermanövern und Kaisertagen in Lothringen zusammensällt. Die selben liegen den Franzosen bekanntlich schwer im Magen, hauptsächlich wegen der Anwesenheit des italienischen Thronfolgers, die man französischerseits als eine gegen Frankreich gerichtete Demonstration, ja, geradezu als eine Beleidigung Frankreichs Seitens Italiens betrachtet. In diesem Sinne wetterten ja die französischen Blätter aller Parteirichtungen schon lange vor der Deutschlandsfahrt des Prinzen von Neapel gegen das Unternehmen, und dessen ohne Zögern erfolgte Durchführung hat den Grimm der französischen Chauvinisten über das Erscheinen des italienischen Thronerben auf reichsländischer Erde nur noch gesteigert. Merkwürdiger Weise hat nun dieser gallische Zorn in der russischen Presse ein charakteri stisches Echo gefunden, die panslavistischen Zeitungen in Petersburg und Moskau erblicken auf einmal in dem Manöverbesuche des italienischen Königssohnes in Lothringen eine grobe politische Taktlosigkeit sonder gleichen, eine Herausforderung Frankreichs, welche nunmehr in der Entsendung eines russischen Geschwaders nach den französischen Gestaden ihre deutliche Beant wortung erfahre. Ob es nun der russischen Regierung wirklich darum zu thun ist, mit der Erwiderung des französischen Flottenbesuches von Kronstadt speziell gegen die Manöverfahrt des Kronprinzen von Italien zu demonstriren und hiermit den „empörten" Gefühlen der französischen Nation Linderung zu verschaffen, muß zwar noch dahingestellt bleiben, das Zusammen fallen der amtlichen Petersburger Nachricht von der Entsendung eines russischen Geschwaders nach Toulon mit dem Zeitpunkte des Einzuges Kaiser Wilhelms und seines hohen italienischen, Gastes in Metz macht indessen eine derartige Absicht sehr wahrscheinlich. Um so entschiedener muß aber betont werden, daß die Kaisermanöver in Lothringen und die Theilnahme des Kronprinzen Victor Emanuel an denselben keinerlei Spitze gegen Frankreich und den „Zweibund" tragen, und wenn diesen Vorgängen der Charakter einer poli tischen Kundgebung innewohnt, so ist es nur derjenige einer erneuten Betonung von der unverbrüchlichen Fortdauer des mitteleuropäischen Friedensbundes. Kaiser Wilhelm hat ja wiederholt in seinen Metzer Ansprachen und Reden seinen friedlichen Gesinnungen und seinem lebhaften Wunsch, den Völkerfrieden Europas noch fernerhin erhalten zu sehen, markanten Ausdruck verliehen, nur bewußte Böswilligkeit kann daher da von reden, die lothringer Kaisertage hätten eine feind liche Spitze gegen Rußland und Frankreich. Wenn die Kriegsfanatiker an der Seine und an der Moskawa trotzdem bei dieser Auffassung verharren und daher den russischen Flottenbesuch in Toulon als ein starkes Gegengewicht zu den Festtagen von Metz bejubeln, so ist über eine derartige Haltung kein Wort weiter zu verlieren. Deutschland unk seine Verbündeten wollen aufrichtig den Frieden, das klingt aus den Kaiserreden von Metz klar genug hervor, der Drei bund ist aber auch stark genug, um einem frivolen Bruche des Friedens energisch zu begegnen, und auch diese Lehre leuchtet aus den Kaisertagen in Lothringen deutlich hervor — vielleicht, daß die Chauvinisten in Frankreich und Rußland diese Lektion trotz Kronstadt und Toulon doch begreifen. Sächsisches. — Am 6. d. M. hat eine abermalige Auslosung Königlich Sächsischer Staatspapiere stattgefunden, von welcher die 3°/» Staatsschulden-Kaffenscheine vom Jahre 1855, betroffen worden sind. Die Inhaber der genannten Staatspapiere werden hierauf noch besonders mit dem Hinzufügen aufmerk sam gemacht, daß die Listen der gezogenen Nummern in der Leipziger Zeitung, dem Dresdner Journal und dem Dresdner Anzeiger veröffentlicht, auch bei sämmt- lichen Bezirkssteuer-Einnahmen und Gemeindevorständen des Landes zu Jedermanns Einsicht ausgelegt werden. Mit diesen Listen werden zugleich die in früheren Ter minen ausgelosten, aber noch nicht abgehobenen Nummern wieder aufgerufen, deren große Zahl leider beweist, wie viele Interessenten zu ihrem Schaden die Aus losungen Übersehen. Es können dieselben nicht genug davor gewarnt werden, sich dem Jrrthume hinzugeben, daß, so lange sie Zinsscheine haben und diese unbe anstandet eingelöst werden, ihr Kapital ungekündigt sei. Die Staatskassen können eine Prüfung der ihnen zur Zahlung präsentirten Zinsscheine nicht vornehmen und lösen jeden echten Zinsschein ein. Da nun aber eine Verzinsung ausgeloster Kapitale über deren Fällig keitstermin hinaus in keinem Falle stattfindet, so wer den die von den Betheiligten in Folge Unkenntniß der Auslosung zu viel erhobenen Zinsen seinerzeit am Kapitale gekürzt, vor welchem oft empfindlichen Nach theile sich die Inhaber von Staatspapieren nur durch regelmäßige Einsicht der Ziehungslisten (der gezogenen wie der restirenden Nummern) schützen können. — Unter der sächsischen Bevölkerung sind 88 Pro zent in Sachsen geboren, die übrigen eingewandert. Dagegen machen unter den wegen Bettelns und Vagabondirens in Sachsen bestraften Personen die Landeskinder nur etwa 40 Prozent aus. Der größere Theil der Bettler sind also Nichtsachsen. Im Jahre 1881 waren noch 50 Prozent der bestraften Bettler und Vagabunden aus Sachsen; seitdem ist ihr Pro zentsatz stetig gesunken, der Prozentsatz der aus anderen deutschen Staaten gebürtigen sich ungefähr gleichgeblieben, der Prozentsatz der Reichsausländer dagegen fort während gestiegen, und zwar seit 1881 von 8 Prozent bis auf 14 Prozent im Jahre 1891. Von 1880 an bis 1889 zeigte die Zahl der Bettler eine recht er freuliche Abnahme, seit 1890 aber begann sie wieder bedenklich zu wachsen. Die Betheiligung des weiblichen Geschlechtes an der Gesammtzahl der Bettler ist mehr und mehr zurückgegangen. Leisnig. Ueber die am Montag voriger Woche erfolgte Auffindung des Bremsers Weißig, von dem es hieß, daß er möglicherweise ermordet worden sei, verlautet jetzt, daß nach den Erörterungen der Staats anwaltschaft und der Bahnbehörden ein Mord ausge schlossen erscheint und daß lediglich ein Anschlägen des Körpers des Verstorbenen an einen harten Gegenstand die Ursache zum Tode geworden ist. Das Unglück muß bei der Ausfahrt in Dresden erfolgt sein, denn die Mütze des betreffenden Beamten wurde direkt unter der Concordienbrücke, welche bei Dresden die Bahn gleise überspannt, gesunden. Der Mann ist aber nicht gleich gestorben, sondern wahrscheinlich erst kurz vor Einfahrt des Zuges in den Bahnhof zu LeiSnig, denn die Leiche ist noch ganz warm gewesen. Die Lage der Leiche ist so gewesen, daß der Verunglückte nach dem Unglück vielleicht wieder theilweise zum Bewußtsein gekommen ist und Versuche gemacht hat, sich zu erheben oder vom Platze zu bewegen. Crimmitschau. Am 7. September sand das diesjährige übliche Zinnschießen der hies. Schützen gesellschaft statt. Dasselbe wurde schon am Mittwoch Nachmittag mit Abholen der Fahnen, Einzug des Bataillons und darauffolgendem Concert eingeleitet. Donnerstag Morgen erfolgte Weckruf. Vormittags sand Frühstück im „Adler" und darauf Festzug nach dem Schützenhause statt. Festtafel und Ball beschlossen daS Zinnschieben. Ueber den Ursprung und die Be deutung des hiesigen ZinnschießenS sei Folgendes er wähnt: Im Jahre 1603 wurde in Crimmitschau eine Armbrustschützengesellschaft gegründet, die unter die Handwerker gerechnet und innungSmäßig war. Sie hatte außer dem ordentlichen Vogelschießen, welches über der Pleiße drüben (am Wasserthor) vor der Stadt abgehalten wurde, noch alljährlich zwei Gesellen oder Herbstschi-ßen. Als Prämien wurden beim Schießen Zinngeschenke v'ertheilt. Das Jnventarium bestand im Jahre 1622 in 50 silbernen Schilden, nachdem schon 16 zur Erbauung einer neuen Vogel stange abgezogen worden waren, und einem silbernen Vogel, der mitten unter den Schildern hing. Die Hauptleute wechselten alle Jahre, wie die Obermeister bei den Handwerkern, und es wurden jährlich zwei Ober- und zwei Unterhauptleute bestätigt. Bis zu Ende der vierziger Jahre des jetzigen Jahrhunderts sind zu diesen Herbstschieben Zinngeschenke vertheilt worden, später wurden dieselben in Geldprämien um gewandelt, daher der Name der Festlichkeit „Zinnschießen". Im Jahre 1903 werden es mithin 300 Jahre, daß die hiesige Schützengesellschast gegründet worden ist. Plauen i. V. Die königl. Staatsregierung hat der Stadt Plauen als Gegenleistung für das von dieser für dis Erbauung eines neuen Seminar- gebäudes zu beschaffende Baugrnndstück die Ueber« lasiung des alten Seminars (ohne Turnplatz und Turnhalle) in Aussicht gestellt, an diese Ueberlaffung aber eine Anzahl Bedingungen geknüpft, von denen diejenige erwähnt sei, daß die Stadt das für das Seminar benöthigte Wasser zu beschaffen hat. Die von der Stadt auf eigene Rechnung zu bewirkenden Straßenherstellungen werden 80000 Mk. kosten. Da alte Seminargrundstück hat, soweit eS an die Stadt abgetreten werden soll, eine Grundfläche von 4290 gm, die Brandkaffe beträgt über 80000 Mk. Vermischtes. Ein neuer Tric der Taschendiebe. Es war bei einem Begräbniß, das vor einigen Tagen in Berlin mit großem Prunke stattsand und das eine ganz außergewöhnliche Zahl von Zuschauern auf den Straßen vereinigte. Im dich testen Gedränge standen 3 Schwestern aus dem Viktoriahause, neben ihnen ein Amateurphotograph mit seinen Gehilfen. Die letzteren hatten die Platten bereitet und warteten auf einen geeigneten Augenblick, eine Momentausnahme zu machen. Am meisten imponirte ihnen augenscheinlich ein Schutzmann, der auf der gegenüberliegenden Seite der Straße mit Würde und Eifer seines Amtes waltete. Der Gehilfe des Photographen war augenscheinlich noch eifriger als sein Herr. Der Letztere mußte ihn unausgesetzt mahnen: noch nicht! Warte, bis wir ihn im Profil nehmen können! Halt! — der Schutzmann wendete sich um — jetzt, schnell, zieh' sie heraus — die Platte nämlich. Und nun war das Bild gewonnen, und die Photographen entfernten sich schleunigst, vermuthlich in die Dunkelkammer. Nicht lange daraus entfernten sich die 3 miten Schwestern. Ermüdet vom langen Warten nahmen sie eine Droschke. Beim Aussteigen griff die erste in ihre Taschen, das Portemonnaie fehlte: die zweite faßte schnell zu, es er ging ihr nicht besser; die dritte hatte glücklicher Weise loseS Geld in der Tasche, das ihr geblieben war, weil sein Klim pern beim Herausnehmen durch eine fremde Hand vermuthlich zum Verräther geworden wäre. Jetzt endlich ward es ihnen klar, warum die Amateurphotographen darauf warteten, daß der Schutzmann sich abwcnde, und das Kommando: „Jetzt, schnell, zieh' sie heraus" wurde verständlich. Die Taschendiebe haben da eine neue Nuance für ihre Thätigkeit ausgeklügelt, die aber, nachdem sie nun „enthüllt" worden ist, wohl nicht mehr wiederholt werden dürfte. Kindermund. Gin Leser der „Täglichen Rundschau" schreibt: „Machte ich neulich mit meinem kleinen Töchterchen einen Sonntagsausflug aufs Land. Wie wir durch die blühenden Felder spazierm, erschallt vom Dorse her Glockenton, und wir Städter schließen uns den Landleulen an, die dem Kirchlein zustrebcn. Es ist der erste Gottesdienst, den das Kind in seinem jungen Leben besucht. Wie der Geistliche seine Predigt mit dem Gebet beschließt, zupft es den Vater am Rockärmel und flüstert: „Du, das Vaterunser scheint aber sehr bekannt zu sein. Die Bauern können's ja auch." Wie theuer das Leben beim Militär ist! Drei Väter klagen einander auf der Rückkehr aus dem Badeort T. im Eisenbahnwaggon ihr Leid, wie theuer daS Leben beim Militär sei, wo Jeder von ihnen einen wohlgerathenen Ein-