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Ä Beilage zu Nr. 154. Donnerstag, den 31. Dezember 1891. Politische Jahresruudschau. DaS Jahr 189! hat in Bezug auf seinen allgemein politischen Charakter die Friedenshoffnungen, mit denen es von den Völkern Europas begrübt wurde, voll und ganz gerechtfertigt. Wohl fehlte eö nicht an jenen kleinen Disharmonien, welche das Vülkerleben nun einmal mit sich bringt, wohl gingen auch die allseitigen Rüstungen weiter, obschon in sehr gemäßigtem Tempo, aber doch kam es nirgends zu einer ernstlichen Ge fährdung des Friedens. Namentlich in der zweiten Hälfte des Jahres hat sich die allgemeine Friedens erwartung bedeutend gehoben, und wenn wir jetzt die Schwell« zu dem neuen Jahre in der Zuversicht über schreiten, vaß nach menschlichem Ermessen die Völker harmonie wenigstens in unserem Welttheil auch ferner hin erhalten bleiben werde, so erscheint dies in der gegenwärtigen Gestaltung der internationalen Lage vollkommen begründet. Wenden wir uns nun den einzelnen Staaten zu, so steht für uns Deutschland natürlich in erster Linie. Da gedenken wir wohl vor Allen» unseres Kaisers, der, durchdrungen von den Pflichten seines hehren Herrscherberufes, unermüdlich sich dem Gedeihen und der Wohlfahrt unseres theueren Vaterlandes in hin gehender Arbeit widmet. — Aus der Reihe der deut schen Bundesfürsten wurde durch den Tod abberusen König Karl von Württemberg, zum tiefsten Schmerz des württembergischen Volkes. Den erledigten Thron bestieg König Wilhelm II., der sich trotz seiner noch so kurzen Negierungszeit bereits als ein echter deut scher Fürst gezeigt hat. Von regierenden Fürstinnen verschied die Fürstin von Neuß ältere Linie. — Aus dem Gebiete der inneren deutschen Politik brachte das Ja^r 189! gleich mit seinem ersten Tage ein be deutsames Ereigniß, das Inkrafttreten des Jnvalidiläts- und Altersversicherungsgesetzes. Ein anderes wichtiges Gesetz von gleichfalls sozialpolitischem Charakter, das Arbeiterschutzgesetz, wurde vom Reichstage nach langen und mühevollen Verhandlungen in seiner Frühjahrs- fesfion endgültig angenommen. Im Uebrigen vermochte der bereits am 6. Mai 1890 zusammengetretene Reichs tag seine Thätigkeit noch immer nicht zu beenden, der Sessionsschluß ist vielmehr erst zu Ostern 1892 zu erwarten. — Von allgemeinerem Interesse war auch die Aufhebung der Paßzwangverordnung in Elsaß- Lothringen, welche Maßregel von der Bevölkerung des Reichslandes freudig begrüßt wurde. Landtagsmahlen fanden, außer in mehreren kleinen Staaten, in Baden und Sachsen statt. In ersterem Lande erlitten die Nationalliberalen eine empfindliche Mandatseinbuße, doch besitzen sie trotzdem in der zweiten Kammer noch die absolute Mehrheit. Die sächsischen Landtagswahlen wiesen als ihr charakteristischstes Ergebniß die Ver mehrung der sozialdemokratischen Mandate in der zweiten Kammer von sieben auf elf Mandate auf. Die sozialdemokratische Partei machte überhaupt wieder viel von sich reden, auf dem Parteikongreß zu Erfurt wurde die definitive Trennung zwischen den vorsich tigeren „Alten" und den radikalen „Jungen" zur Thatsache, seitdem besteht erbitterter Kampf zwischen diesen beiden Richtungen in der deutschen Sozial demokratie. In der auswärtigen Politik Deutschlands im Jahre 1891 stellt die Erneuerung des Bündnisses mit Oester reich-Ungarn und Italien das hervorragendste Ereig- niß dar. Peinliche Zwischenfälle wurden in Paris durch den Besuch der Kaiserin Friedrich gezeitigt; doch übten sie, Dank der großen Mäßigung und Ruhe der deutschen Regierung, nicht die vielfach befürchtete störende Einwirkung auf die offiziellen deutsch-fran zösischen Beziehungen aus. Auf wirthschaftlichem Ge biete aber war das hervorragendste Ereigniß des Jahres 1891 der Abschluß der Handelsverträge Deutschlands mit Oesterreich-Ungarn, Italien, Belgien und der Schweiz. Die drei erstgenannten Verträge sind vom deutschen Reichstage noch unmittelbar vor der Weih nachtspause mit großer Mehrheit angenommen worden. Die Mehrheit unserer Nation erhofft von den Wir kungen der neuen Handelsverträge eine Besserung in den zur Zeit vielfach noch gedrückten wirthschaftlichen und industriellen Verhältnissen Deutschlands, aufrichtig kann man nur wünschen, daß diese Hoffnung in Er füllung gehen möge. Was schließlich die Kolonialpolitik Deutschlands im vergangenen Jahre anbelangt, so ließ deren Gang nach mancher Richtung hin zu wünschen übrig. Be sonders schmerzlich wurden daheim die Niedermetzelung der Expedition Zelewski in Ostasrika und der Helden tod des tapferen Hauptmanns von Gmvenreuth in Kamerun empfunden. Trotz dieser und noch anderer Mißgeschicke darf man zu der deutschen Regierung das Zutrauen hegen, daß sie sich hierdurch in ihren kolonialen Zielen nicht beirren lassen, sondern mit fester Hand das Programm ihrer Kolonialpolitik aus allen Punkten durchführen wird. Von den beiden Hälften der österreichisch-unga rischen Monarchie sah hauptsächlich Cisleithanien mehrfache bewegte Ereignisse in seiner inneren Politik sich vollziehen. Da sich Graf Taaffe, der österreichische Ministerpräsident, mit seinen politischen Berechnungen vollständig in eine Sa lgaffe verrannt hatte, so blieb nichts als die Auflösung des Reichsrathes und die Vor nahme von allgemeinen Neuwahlen übrig. Dieselben zeitigten besonders in Böhmen ein bemerkenswerthes Ergebniß, indem die Altczechen gegenüber den radikalen Jungczechen eine vollständige Niederlage erlitten. Im Sonstigen blieb aber das gegenseitige Stärkeverhältniß im österreichischen Reichsrathe auch nach den Neuwahlen ziemlich unverändert, nur war der frühere Ring der klerikal-slawisch-feudalen Mehrheit des Abgeordneten hauses infolge der Wahlniederlage der Altczechen zer sprengt, Graf Taaffe mußte daher wohl oder übel eine Annäherung an oie Deutschliberalen suchen, um sich wieder eine feste Parlamentsmehrheit zu sichern und diese Bemühungen sind allerdings durch die Ernennung des liberalen Grasen Kuenburg zum Minister ohne Portefeuille im Kabinet Taaffe sehr aussichtsreich ge worden. Im Herbste besuchte Kaiser Franz Joseph das Königreich Böhmen, von beiden Nationalitäten jubelnd begrüßt. Doch ist der eigentliche Zweck dieser Kaiser reise, auf welche übrigens durch vas Reichenberger Bombenattentat ein dunkler Flecken fiel, Czschen und Deutschböhmen mit einander auszusöhnen, bis jetzt ebensowenig erreicht worden, als dies von dem halb versumpften Ausgleich in Böhmen gelten kann. — In Ungar» mußte sich das Ministerium Szapary in wiederholten parlamentarischen Kämpfen mit der äußersten Linken des Abgeordnetenhauses herumschlagen. Zwar blieb das Kabinet Sieger, aber die ganzen Ver hältnisse im ungarischen Parlamente sind doch so zweifelhaft geworden, daß im Januar 1892 dessen Auf lösung erfolgen wird. Das bedeutsamste politische Ereigniß des Jahres 1891 in Italien war der Sturz des allmächtigen Crispi und seines Kabinets. An dessen Stelle trat ein aus liberalen und konservativen Elementen gemischtes Kabinet Rudini-Nicotera, welches sich trotz vieler scharfen Anfechtungen von Seiten der Oppositions parteien der Deputirtenkammer immer fester in den Sattel zu setzen wußte. Auf den verschiedensten Ge bieten, in der Kirchenpolitik, in der Finanzpolitik, in der Verwaltungspolitik, in der Kolonialpolilik, hat sich das Ministerium Rudini glänzende Vertrauensvota der Kammer erkämpft, welche seine Stellung entschieden gekräftigt haben. Nach außen hin erwies sich das Kabinet Rudini, gleich seinem Vorgänger, als ein treuer Anhänger des mitteleuropäischen Friedensbundes, und alle geheimen Bemühungen, Italien nach der russisch-französischen Seite herüber zu ziehen, sind er folglos geblieben. In Frankreich drohten während des vergangenen Jahres öfters politische Krisen auszubrechen, dieselben wurden indessen vom Ministerium Freycinet-Constans immer wieder mit Geschick beschworen. Angesichts der offen feindlichen Stellungnahme der Radikalen unter Clemenc au gegen die Regierung bleibt jedoch die Lage des Kabinets eine recht bedenkliche. In den schwe benden Tagessragen der Zoll- und Handelspolitik hat Frankreich durch den neuen Zolltarif Stellung im extrem-schutzzöllnerischen Sinne genommen. Doch be ginnt die französische Regierung selber, dieses System schon wieder zu durchlöchern, indem sie Verhandlungen über die Verlängerung der Handelsverträge Frank reichs nut Schweden, Griechenland u. s. w. eingeleitet hat. Die auswärtige Politik Frankreichs ward voll ständig durch das Bestreben, sich Rußland möglichst zu nähern, beherrscht. Der französische Flottenbesuch in Kronstadt machte denn auch glücklich das französisch russische Einvernehmen vor aller Welt kund, die Russen ihrerseits beeilten sich, durch Entsendung von Kriegs schiffen nach Cherbourg und Brest das französische Ent gegenkommen zu erwidern. Schwer heimgesucht ward Rußland im alten Jahre durch die Mißernte und den hierdurch ver ursachten Nothstand in weiten Theilen des Niesenreichs. Alle Versuche zur Linderung des herrschenden Elends gleichen bis jetzt nur Tropfen auf einem heißen Stein und jedenfalls sind die wirthschaftlichen Aussichten, mit denen Rußland in das neue Jahr hineinschreitet, sehr trübe. Mißlich ist auch die Finanzlage Rußlands, die sich trotz der mit vielem Geräusch unternommenen 500-Millionen-Francs-Anleihe tn Paris noch nicht bessern will. Im Uebrigen werde« tm heiligen Ruß land die Deutschen, Polen und Juden weiter verfolgt, zur Stärkung des russischen Nationalgedankens. Von nihilistischen Attentaten wurde auch wieder allerhand gemunkelt, doch hat man hierüber Bestimmtes nicht er fahren. In England gab es ausnahmsweise keine großen politischen Begebenheiten im Jahre 1891. Höchstens Irland lieferte da Einiges, vornehmlich war der Tod Parnell's ein Ereigniß, das die gesummte irische Na tion bis in ihre Tiefen auswühlle; eine Klärung der irischen Verhältnisse steht indessen immer noch aus. Mit jubelnder Begeisterung empfingen die Engländer das deutsche Kaiserpaar bei seinem Besuche auf dem Boden Albions, was dis Engländer freilich nicht hin derte, der französischen Flotte in Portsmouth ebenfalls einen recht herzlichen Empfang zu bereiten. Nach außen hatte England verschiedene „Schmerzen", so die Dar danellen- und die Pamirsrage, doch ging es schließlich am Bosporus wie in Zentralasien zur Zufriedenheit der Engländer ab. Betrachten wir nun die wesentlichsten Jahresereig nisse in den übrigen Ländern Europas, so ergiebt sich folgendes Bild: die Schweiz erhielt einen neuen Bundespräsidenten und feierte das 600jährige Bestehen der Eidgenossenschaft, in Holland kam das liberale Kabinet Poortvliet an die Stelle des klerikal-konser vativen Kabinets Mackay, Belgien hatte das Hin scheiden des hoffnungsvollen Thronfolgers Prinzen Balduin zu beklagen. In Dänemark vollzog sich eine Verschmelzung zwischen der konservativen Regie rungspartei und den gemäßigten Liberalen, in Nor wegen wurde das konservative Ministerium Stang durch ein radikales Kabinet Steen ersetzt. In Spanien erfolgte eine Umbildung des konservativen Ministeriums Canova's, das Gleiche geschah in Portugal mit dem Ministerium Souza, ein republikanischer Putsch in Oporto wurde rasch unterdrückt. Von der Balkan- Halbinsel sind der viermalige Kabinetswechsel in Ru mänien, die Ermordung des bulgarischen Finanz ministers Beltschew, die Einsetzung des radikalen Kabinets Pasic in Serbien, sowie die Ausweisung der Königin Natalie aus diesem Lande, die Jnstallirung des neuen Kabinets Djevad Pascha in Konstantinopel und die antisemitischen Unruhen auf der griechischen Insel Korfu zu erwähnen. Sehr unruhig ging es in Südamerika zu. In Argentinien und Uruguay gährte es fortwährend, in Chile wüthete ein blutiger Bürgerkrieg, der erst mit dem Selbstmorde des Diktators Balmaceda endete, und in der Republik Brasilien hatten die inneren Um wälzungen die Ersetzung des als Diktator auflretenden Präsidenten Fonscca durch den General Peixoto zur Folge. Was Asien anbelangt, so sind die Christen verfolgungen in China, sowie die Aufstände im Norden und tm Süden Chinas hervorzuheben. Von afrika nischen Angelegenheiten endlich verdienen die Händel zwischen Engländern und Portugiesen in Südafrika und die Ersetzung des den Engländern mißgünstigen egyptischen Kabinets Riaz Pascha durch ein Kabinet Fohmy Pascha Erwähnung. Vermischtes. (L'Aigle.) In diesem Jahre ist aus dm Listen der Kriegsmarine Frankreichs ein Schiff gestrichen worden, dessen Name einst in aller Munde war und das auch in der Ge schichte Deutschlands ein« gewisse Nolle spielte. Der Kreuzer „La Rapide", 2000 Tonnen gros« und 13 Meilen schnell, ein Raddampfer, wurde in den Jahren IK57 1050 als