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Nr. 232 Dienstag, äen 5. Oktober 1926 21. Jahrgang Mer Tageblatt MM- /lnzetger für Sas Erzgebirge r,l«srammi, rag.dlatt ftatts,Evthalleat sie amilichev oekaarmoachavge« O»A «a»» sei Stasi aas se» fimtagericht» fine. F»1 L«ip,«s Nr.,«»« SkMWs MipijUi Stresemanns Appell an England Köln, 2. Oktober. Auf deut Parteitag der Deutschen Voltspartet hielt heute Außenminister Tr. Stresemann eine nament lich in ihren außenpolitischen Ausblicken wichtige Rede. Stresemann, dem die Versammlung Ovationen bereitete, führte aus: In ihren Zielen sei sich die große Mehr heit des deutschen Volkes über die Außenpolitik durch aus einig. Nur ihre Bedeutung sei umstritten. Ob sie cichtig ist, sei an ihrem Erfolge zu messen, aber Er folge könne unsere Außenpolitik überhaupt nur inso fern haben, als sie uns von den drückendsten Fesseln befreie. Er habe oft die Ampfindung, als ob manche Asußerung in der deutschen Öffentlichkeit zu der deut schen Außenpolitik nur zu verstehen ist unter der Ueberschrtft: „Wir vergessen zu leicht." Stresemann verwies dann darauf, daß es schon ein Fortschritt sei, daß man nicht mehr den diploma tischen Verkehr tu Form ultimativer Drohungen, son dern am Verhandlungstisch gepflogen habe. Aber jeder Außenminister kämpfe in Deutschland gegen die Partei derer, die täglich beteten: „Unsere tägliche Illusion gib uns auch heute". Die Verständigungspolitik war unpopulär, denn die Behandlung des deutschen Volkes ließ die Achtung vor ihm vermissen. Aber dagegen war mit Haß, Trotz und illusionären Reoanchegedanken nicht anzukämpfen. Die V«is ä 'dstungspolitik fiel uns nicht in den Schoß, fl« mutzt« «rtSmpft w«rd«n und dieser Kamps dauert auch heute an, nicht nur bet uns, auch bet den anderen Nationen. Stresemann .stellte 'dann die Etappen der Politik der letzten Jahre aus, die in ihrer Grundlinie mit dem Abbruch des Ruhrkampfes begonnen hat. Auf dem Wege lag die Befreiung des Nuhrgebtetes und der ersten Rhetnlandzone und der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, und auf der Endroute liege die Erkämp- sung der deutschen Souveränität über das ganze Rhein land. Nachdem so Stresemann die Resonanz seiner Außenpolitik im Innern gekennzeichnet, ging er auf dio aktuellen Probleme der Außenpolitik über: Für die deutsche Außenpolitik stellt sich die Zu gehörigkeit zum Völkerbund unter einem doppelten Ge sichtspunkt dar: 1. unter dem der Bedeutung und des Wertes des Völkerbundes als solchen, 2. unter dem Gesichtspunkt, daß unser Eintritt ebenfalls eine Etappe aus dem Wege außenpolitischer Entwicklung war. „Die Genfer Tagung hat mich bestärkt In der Ueberzeugung, die ich vom Völkerbund hatte. Gleich gültig, wie man sich! zu den allgemeinen Ideen des Völ kerbundes etnstellen mag, wäre es eine Torheit, die große politische Realität zu verkennen, die die Genfer Institution darstellt. Ich bin der Ansicht, daß daN internationale Leben tatsächlich neuer Formen bedarf und nach ihnen sucht, und daß zumindest ein wertvoller Ansatzpunkt für diese Bestrebungen in Gens gegeben ist. Welche Schwierigkeiten bot früher zu kri tischen Zeiten das Zustandekommen politischer Konfe renzen! Und die Aussprache über die sachlichen poli tischen Probleme galt beinahe schon als gelöst, wenn es gelang, sie einer Konferenz zu Übertrag.-n. Die Be deutung Genfs stieg über die Möglichkeit der Bespre chung akuter Einzelfragen weit hinaus. Dort werden Persönliche Beziehungen begründet, wie sie früher kaum möglich waren. ! ! ^' ! ' j Ich persönlich schätze den Kontakt, den ich mit vie len bedeutenden Staatsmännern schon bei dieser ersten Tagung gewonnen habe, außerordentlich hoch ein. Die Verständigungspolitik hat durch unseren Eintritt in den Völkerbund eine starke Stütze erhalten., ES ist kein Zufall, daß meine Besprechung mit dem französische» Außenminister in unmittelbarer Nähe von Genf statt fand. In Locarno und Genf ist für uns die Grund lage geschaffen worden, die eine Bereinigung per zwi schen Deutschland und seinen ehemaligen Kriegsgegnern schwebenden Probleme ermöglicht. Damit komme ich zu dem vi leröitnten Thema einer deutsch französischen Verständigung. Ich kenne alle Hindernisse, psychologische Hemmun gen hüben und drüben, aber ich glaube, die Tatsache ist nicht zu bestreiten, daß eine deutsch-französische Ver ständigung der Kernpunkt jeder europäischen Ver ständigung und Befriedung.ist und bleibt. Diese Frage ist keine taktische, sondern sie ist da» Kernproblem der zukünftigen Entwicklung, ohne daß jemand heute zu fa- MWiMIMOM. und an die Vereinigten Staaten. gen vermag, ob in dieser Entwicklung die Völker dem Wunsch und dem Willen ihrer Staatsmänner folgen werden. Ich glaube an den ehrlichen Berständigungswtllen des französischen Herrn Außenministers, mit dem mich mehrere Jahre der Verhandlungen über wichtige Fra gen und persönliche Fühlungnahme bet Konferenzen verbinden. Ich sehe da schon wieder die liebenswürdi gen Ueberschrtften in den Zeitungen, die vielleicht schon in diesem Augenblick entstehen finit einer Wendung zu dem Pressetisch) „Der ewige Optimist" oder „Der Ver trauensvolle Utopist". Einfache Vertronenshinoab« ohne sachliche Gründ» ist Torheit. Ganz falsch ist es aber auch, zu glauben, daß die Po litik lediglich durch Mißtrauen bestimmt werden könne. Die alte Kabtnettspolitik „Traue niemandem und be trüge jeden", die auch früher nicht sehr erfolgreich ge wesen ist, sollte für ewig der Vergangenheit angehören. Für mich steht das eine fest, daß das neue Deutschland und sein Wiederaufstieg nur auf dem Frieden ba siert sein kann. Hier ist also die Grundlage jeder prak tischen Wtederauftüchtung unserer Stärke." Stresemann betonte dann di« Bedeutung der internationalen Wirtschaft»' abmachungen. „Die Wirtschaft ist Schrittmacherin auf einem Wege, der übev Landesgrenzen hinweg große neue Bin dungen schafft und wirtschaftliche Anomalien der Frie densverträge beseitigt. Niemals kann es die Aufgabe deutscher Wirtschaftsführer sein — die im übrigen bei ihren Besprechungen und Verhandlungen selbstverständ- ltch im Einvernehmen mit ihven Regierungen gehan delt haben — einen Zusammenschluß einzelner Länder in großen industriellen Fragen herbeizuführen mit der Tendenz, dadurch andere Länder oder Wirtschaftsmächte niederzukonkurrentlcren und den Kampf einzelner Fir men auf den wirtschaftlichen Kampf einzelner djeser Gruppen zu übertragen. Stet« ist England der Beitritt zu dieser Bereinigung freigestanden. Es ist Englands eigener Wille, daran nicht teilzunehmen. Weiterhin ist es ebenso selbstverständlich bei der Außen politik, wenn sie Frieden und Verständigung sucht, daß es niemals ihre Aufgabe ist, irgendwelche Mächte ab- zuschließen oder ihre Tendenzen gegen bestimmte Mächte zu richten. Das gilt ebenso von dem Berliner Ver trag, der zwischen Deutschland und der Sowjetregie rung abgeschlossen ist, wie von den Verhandlungen, die die Bereinigung der Nachkriegszeit zwischen Frankreich und Deutschland anstreben. Früher war es in oppositionellen Kreisen beliebt, die deutsche Außenpolitik als von England abhängig hinzustellen. Das ist ebenso töricht, als wenn Deutsch land wirtschaftlich oder politisch jetzt eine England un- frenndltche Politik treiben wollte oder treiben müßte. Dasselbe gilt auch von dem Verhältnis zu den übrigen Staaten, besonders zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Es wäre verfrüht, jetzt schon Entscheidendes darüber sagen zu wollen, wie die Ver handlungen in Thoirh zum Erfolg führen können. Es bedarf dazu der sorgfältigen Behandlung aller dabei in Betracht kommenden Fragen. Ich bin mir von vorn herein darüber klar, daß die nächsten Monate wieder Zeiten der stärksten Kampf« und auch der Geduld und Nervenprobe sein werden. ES ist klar, daß, wenn eine Tatsache geschaffen wird, sie nicht schon Allgemeingut d.c: öffentlichen Meinung der verschiedenen Länder ist, wenn alle Gegner dieser Pslitik eurp.ersteigen und offen oder mit anderen Mit teln den Kampf aufnehmen. Nur das eine kann ich Ihnen sagen: die Politik von Toirh kann nach meiner Anschauung und nach der Ueberzeugung de» französischen Herrn Außenministers keine Politik sein, die aus dem Rahmen der allgemeinen Politik zur Befriedung und -um Wiederaufbau Europas herauStrete. / E» bedarf ;» ihrer Berwirlichung deshalb auch der Beteiligung anderer Mächte und der Mitwirkung der für die Reparattonsfragen zuständigen Stellen. Ich rechne darauf, daß dieser Po litik in den anderen Ländern Verständnis und Förde, rung zuteil wird. Dabei denke ich besonders an die vereinigten Staaten von Amerika, die schon seit dem Tage vyn Versailles die wirkliche Befriedung als eines ihrer Ziele bezeichnet haben und die Bewegung ins Leben riefen, die zum Dawes ab komm en führte. Ich möchte deshalb annehmen, daß es in der Linie der Po litik der Vereinigten Staaten liegen wird, jetzt auch! die Absichten von Thoirh verständnisvoll zu unterstützen." Stresemann erinnerte dann an die Rede, die der Präsident der Vereinigten Staaten im Juli 1925 in Cambridge im Staate Massachussets gehalten Hat, in der er Europa empfahl, an Stelle des Mißtrauen» wechselseitige Uebereinkünfte und die Methode der Schiedsgerichtsbarkeit und der richterlichen Entscheidun gen zu stellen. Ebenso wie die europäischen Völker die schwierige Frage der Reparationen geregelt haben, könn ten sie auch über ihre Sicherheit sich einigen. In dieser Rede habe der Präsident der Bereinigten Staaten Wet ter gesagt: .„Während unser Land sich politisch nicht verpflichten sollte, wo es keine politischen Interessen hat, so werden doch derartige Uebereinkünfte stets die moralische Unterstützung unserer Regierung finden, und es darf nicht ausbleiben, daß sie von der öffentlichen Meinung der Welt lebhaft begrüßt würden. Sie wür den den beteiligten Nationen materiellen und geistigen Lohn einbringen. Auf welcher anderen Grundlage könnte es Mut für die geben, die geeignet sind, bei dem finanziellen Wiederaufbau Europas mitzuwtrken?" Stresemann fuhr nach diesem Zitat fort: „Wenn da» Inkrafttreten der Locarnoverträge dazu geführt hat, daß die französischen und deutschen Minister des Neuste« ren bei ihren Kabinetten dafür etntreten, daß da» noch zwischen uns Stehende herausgenommen wird; wenn Zusammenhang mit diesen Fragen auch fragen wirt schaftlicher und finanzieller Natur gestreift werden, die die Zustimmung anderer Staaten erfordern, die früher beim Londoner Abkommen mitgewirkt haben, so glaube ich, daß diese Darlegung des Präsidenten der Bereinig ten Staaten auch anzuwenden ist auf diesen Fortschritt der friedlichen Verständigung! in Europa; und wir glau ben, sie auch dahin auslegen zu können, daß auch für diese weitergchenden Bestrebungen die moralische Unter stützung der Oeffentlichkeit der Bereinigten Staaten zur Seite stehen wird." Siresemonn beschäftigte sich dann mit der letzten Rede Polncarö«. „Ein schrtll'r Nachklang .zu dieser Politik der alb' gemeinen Befriedung ist es, wenn neuerdings von de- Gegenseite von hoher Verantwortlicher Stelle der Oes fentlichkeit wieder die alte Behaus vor: he-r all einigen Kriegsschuld der MitteLm^chrr verkünde-: wird. Die Aufklärung der Völker über dic wahre: Vorgänge ist zu weit vorgeschritten, als daß derartig» Behauptungen seist noch gewagt werden dürfen. (Leb- Hafter Beifall.) Wir brauchen sie um so weniger zu fürchten, wenn ,die Behauptung sich aus einer Stel lungnahme zu allen diesen Fragen erklärt, deren fast zwangsläufige Parteilichkeit vor aller Welt offen zutage liegt. Auf einem Friedhof hat der große Staatsmann, der das größte und bedeutendste Volk der Erde führt, kürzlich in diesem Jahre zu derselben Frage Stellung genommen und gesagt: „Niemand, der die Tatsache untersucht, kann daran zweifeln, daß es der Wirt« schaftliche Zustand Europas war, der die überlaste« ten europäischen Länder kopfüber in den Weltkrieg ge jagt hat." „Ich will mit dieser Erklärung nicht rechten. Wir sind bereit, uns jedem unparteiischen Gerichtshof zu stelle», der die Ursachen des Weltkrieges untersucht. Wer das selbe will, daß nämlich die Wahrheit entschieden werde, der sylge unserem Beispiel. Die Menschheit Hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, und niemand wird sich diesem Wunsche der Menschheit nach einem unparteiischen Schiedsspruch für dauernd Widersetzer können." Nach dem Abschluß seiner austerpolitischen Darle gung ans dem Kölner Parteitag ging Stresemann zur Innenpolitik über und versicherte, daß er nicht Fragen der Tagespolitik anschnetden wolle.. Tatsächlich wurde die Frage der KoaltttonSbildung nicht mit einem Wort direkt berührt. Aber Stresemann ist ein Meister in der Behandlung des WoxteS und versteht eS, in Andeutungen und Umschreibungen sehr deutlich da» au», zudrücken, waS er nicht direkt sagen will. Er leitete mit einigen Sähen über den Konflikt in Sachsen ein, wo die Deutsche Volkspartei es ab gelehnt hat, sich für den Fall eine» bürgerlichen Wahl sieges auf den BürgerbloL 'zu verpflichten. Sine solche. Verpflichtung hätte den Traditionen der Mutschen Partei widersprochen, die den Klassenkampf .ablehnt Zleichgüstig, ob er von rechts oder links kommt. Ties' Ablehnung des Klassenkampfe», wie er von der R-'-chjur- geübt wird, wiederholte Stresemann später noch unter