Volltext Seite (XML)
Sonnsbenä, äen 21. August IS2ö Nr. 1S4 /luer Tageblatt ^.^7,-r^ /LNAirHA^r für VUV LLÄWL? c.l«sra«m,. «ag.Ua« 5-^g.u,«.. Enthalte»- -le amtliche« Srkaaatmachuage« -es Rate« -ee Sta-t aa- -re ^«tt-erichle fwe. paßlch^ Kama MM »"p»'g ltr. 1^, 21. Zshrgsng Das Eisenbahnunglück bei Lehrte. Die Zahl der Todesopfer auf 21 gestiegen. Um 1 Uhr 3V Minuten teilt die RelchSbahnverwaltung nit, daß sich die Zahl der Toten auf 81 erhöht hak. Aus den Kümmern sind noch die Leichen von zwei Männern und »ei Frauen geborgen worden, die noch nicht iden.ifizierk „erden konnten. Weitere sieben Tote liegen noch unter den kümmern. DaS Bergungswerk gestaltet sich sehr schwierig m jede einzelne Leiche mit Schweitzapparaten aus den Trüm» nern befreit werben must. Die Toten werden sämtlich in Särgen zunächst nach dem Bahnhof Lehrte gebrach- wo sie ufgebahrt- werden. Vie -as Unglück geschah. Hannover, 19. Aug. Der D-Zug 8, Berlin- Hannover—Köln, der gestern abend 10.34 Uhr Berlin verlassen hat, ist heute morgen 2.10 Uhr zwischen der Station Leiferde, unweit Jsenbütel-Gifhorn und der Blockstelle 169, auf freiem Felde mit Lokomotive und leben Wagen entgleist. Ter Zug war verhältnismäßig schwach besetzt. Lokomotive, Pack, und Postwagen spran gen aus dem Gleis, ein Teil der Wagen stürzte eine anderthalb Meter hohe Böschung hinab, der siebente Wagen schob sich in den sechsten hinein und zertrümmerte lihn vollständig. Von Lehrte, Oebisfelde und Hannover »fuhren Hilfszüge ab. Bevor der erste von ihnen an lder Unglücksstelle etntraf, waren bereits zwei Aerzte laus Hannover im Kraftwagen dort angekommen. Nach Iden bisherigen Meldungen sind der Zugführer und neun rckeiscnde als Tote, acht Reisende und zwei Zugbedien- Nlete als Schwerverletzte geborgen worden. Weitere Tote! mnd Verletzte befinden sich noch unter den Trümmern.! Ule Ermittelungen nach der Entstehungsursache wurden durch einen Bahnmeister eingeleitet, der mit einer Drai sine auf den Schienen herbeigeeilt war. Die Feststellun gen haben ergeben, daß Bahnfrevel vorliegt. Die Ent gleisung wurde herbeigeführt durch Lösung eines Schie nenstoßes. Die Schrauben waren herausgenommen wor den und wurden neben den Schienen gefunden, so daß die Tatsache einer gewaltsamen Einwirkung unzweifel haft feststeht. Reichsbahnpräsident Ta. Seidel und Kri- minalbeamte mit Spürhunden, letztere auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft, weilen bereits an der Unglücks, stelle. Der Zugverkehr ist seit 9 Uhr morgens eingleisig wieder ausgenommen. Das Eisenbahnunglück ist zweifellos auf ein Attentat zurückzuführen. Der D-Zug 6 hatte nachts um zwei Uhr die gleiche Stelle passiert. Als Beweisstücke für ein wohlüberleg- tes Attentats sind gefunden worden ein Schrauben schlüssel, wie ihn die Etsenbahnverwaltung nicht benutzt, und ein Hemmschuh. Der entgleiste D-Zug ist die Bö schung heruntergestürzt. Die Lokomotive liegt auf der Seite; die Wagen liegen alle schräg aus der Böschung. Tas Lokomotivpersonal ist bis auf den Lokomotivführer, der tot ist, unverletzt geblieben. Bis mittags 11 Uhr sind acht Tote geborgen worden, zwölf Tote liegen noch in den zusammengeschobenen Wagen., Ueber die Bewa chung der Strecke ist sestzustellen, daß seit dem Personal abbau die Eisenbahndirektion Hannover die Strecke nachts nicht mehr von einem Streckenläufer abgehen IM - > Vie Liste Ser Toten. Es sind folgende Todesopfer sestgestellt: 1. Zugführer Jordan aus Berlin, 2. David Kovert aus Cambridge, 3. Kurt Leiser aus Berlin, 4. Otto Ebert aus Stettin, 5. Reinhold Grünewald aus Berlin, 6. Obertngenieur Richard Nann aus Tiortmund, 7. Frau Julie Stolle geb. Forstreuter aus Berlin, 8. Friedrich Schmidt-Ernsthausen aus Düsseldorf, 9. Julie Gnann aus Dortmund, Burgunderstr. 13, 10. Weichenwärter Zhrson aus Ronsdorf, 11. Robert Perlstetn aus Hamm t. W., 12. Reichs- und Staatskommissar Ernst Mehlich aus Dortmund, Lutsenstraße 10, 18. Lokomotivführer Wiese aus Kreuz, Ostbahn, 14. Margarete Wiese, Ehefrau, 15. Lokomotivführer Albert Hohn aus Kreuz, 16. Rangierarbeiter Artur Hippe aus Waldenburg (Altwasser), 17. Frau Wtnkelmann (Hetmatsort unbekannt), 18. Fritz Hoffmeister aus Berlin, 19. Fräulein Klara Neuer aus Köln, 20. Student Waterhk aus Reaw, London. Li. Unbekannt. Der Sericht eines flugenzeugen. Braunschweig, 19. Aug. Die Blockstelle 169 liegt etwa zwei Kilometer nördlich von Dalldorf, mit ten in einsamer friedlicher Heide. Tag und Nacht brau sen die D-Züge vorüber. Es ist eine gerade und ebene Strecke; mit 80 Kilometer Stundengeschwindigkeit jagen die Züge hier. Tag und Nacht sieht der Blockwärter die Züge Vorüberrasen. So auch gestern. Wie immer sieht er kurz vor zwei Uhr nachts die beiden runden Lichter des D-Zuges Berlin-Köln näher und näher kommen. Wenige Minuten noch ünd der Zug saust vorüber in die Dunkelheit. Plötzlich aber, wo bleiben die beiden Augen der Lokomotive? Sie sind wie von der Nacht verschlungen und die Strecke liegt in unheimlicher Dunkelheit. Angst überkommt den Wärter. Er rennt in das Dunkel, da hin, wo er soeben noch den nahenden Zug erblickte. Ein Anblick des Entsetzens. Schwer wie ein großes unheim liches totes Tier liegt die riesenhafte Tj-Zug-Maschine, von dem Bahndamm herabgestürzt, im Walde. Hinter ihr die dunkle Masse des Pack- und des Postwagens. Auf den Schienen ineinandergeschoben zu einem wirren Etwas von verbogenem Eisen und zersplittertem Holz zwei.Personenwagen. Sekundenlange Ueberlegung. In wenigen Minuten muß ein Eilzug heranbrausen., Geistesgegenwärtig Albt der Wärter warnende Signale, eine weitere, vielleicht noß größere, Katastrophe verhütend. Tann eilt er ins Streckenwärterhaus. Telephon und Telegraphen spie len und schreien die furchtbare Meldung nach allen Rich, tungen in die Nacht. Zwanzig Minuten später: Hilfszüge mit Aerzten, Sanitätern und Arbeitern rasen heran aus Oebisfelde, Lehrte und Hannover. In den umliegenden schlafenden Dörfern Alarm. Die Bahnbeamten eilen von allen Seiten zur Rettung herbei. Sie stehen vor einer schwe ren grauenvollen Arbeit. Aus dem notdürftig erhell ten Gewirr von Splittern scharfen schneidenden Glases, kantigem Eisen und brechendem Holz tönen Schreie; jam mernder Schmerz der Verletzten, dumpfes Röcheln der Sterbenden. Da ist ein Russe mit gebrochenem Bein hilflos eingeklemmt zwischen den höHernen Bänken eines 3, k Klasse-Abteils. Er lebt, aber rechts von ihml die Leiche seiner Mutter, vor ihm der tote Vater. Tann zieht man aus dem zertrümmerten Wasch raum einen Leichtverletzten. Seltsamer Zufall, der ihn rettete, während wenige Abteile weiter die zerschmet terten Leichen seiner Freunde liegen. Viele zieht man aus den Trümmern. Mit Aexten, Sägen und zischen den Schweißapparaten bahnen sich die Retter den Weg. Aber vielen kommt die Rettung zu spät. Noch um 10 Uhr morgens, als längst ein sonniger Tag die Stätte der Katastrophe mit allen Einzelheiten erkennen läßt, zieht man aus den ineinander geschobe nen Abteilen Tote und Verwundete hervor. Seltsamerweise ist auf derselben Strecke und zwar bet Isenbüttel bereits vor.etwa zwei Jahren ein ähn liches Attentat versucht worden, dessen rechtzeitige Ver eitelung damals der Gewissenhaftigkeit eines Strecken wärters zu danken war. Reichskommkstar Ernst Mehlich. Der bei der Eisenbahnkatastrophe tödlich verun glückte Reichs« und Staatskommissar Ernst Mehlich ge hörte zu jenen Männern, die durch die Staatsumwäl zung des Jahres 1918 die Möglichkeit erhielten, ihre Begabung und ihre Arbeit über den bisherigen engen Kreis hinaus in den Dienst des Staates zu stellen. Er war lange Jahre Redakteur der sozialdemokratischen „Dortmunder Arbeiterzeitung" gewesen, als er im Jahre 1918 zum Stadtverordneten in Dortmund gewählt wurde Seine ruhige und sachliche Art schien ihn für einen Po sten besonders geeignet zu machen, den damals Severing innehatte, und als dieser preußischer Innenminister wurde, wurde er sein Nachfolger im Reichs- und Staats-! lommissariat des Industriegebietes, dem hauptsächlich die Durchführung von Einigung-- und Schiedsverfahren im Wirtschaftsleben obliegen. In dieser Stellung hat Meh lich Treffliches geleistet und sein plötzlicher Tod wird von allen bedauert werden, die in den letzten, oft schwie rigen und stürmischen Jahren mit ihm zusammengear beitet haben. Gerade jetzt macht die Zuspitzung der Lohnverhandlungen im Ruhrbergbau seinen Verlust dop. Pelt fühlbar. — Erst vor anderthalb Jahren starb ihm seine Gattin. Er hinterläßt nunmehr sieben Kinder als Waisen, von denen das jüngste drei Jahre zählt. Seneral-lrektvr Vr. VorpmüUrr über -as Attentat auf -aa Kölner V-Aug. Berlin, 19. Aug. Generaldirektor Dr. Dorp- müller, der heute mittag an der Unsallstelle des Köl ner T-ZugeS die Untersuchungen geleitet hat, erklärte heute abend Pressevertretern, daß untrügliche Anzeichen dafür vorliegen, daß verbrecherische Hände die Kata strophe herbeigeführt Haben. Die Unglücksstelle, so führte T«r. Dorpmüller au», liegt an einer schnurge raden Linie. Der Oberbau auf der Strecke Berlin—Köln ist der beste in ganz Deutschland, denn e» handelt sich um die am meisten befahrene Streck«. Man vermutet, daß mindesten» zwei, vielleicht auch mehr Täter in Frage kommen. Die ganze ZerstürungSarbett hat von zwei.Personen in noch nicht einmal 15 Minuten gelei stet werden können. In der Zett von 1 bis 2 Uhr nachts passieren vier T>Züge imi Abstand von 15 Mi nuten die Unfallstelle. Möglicherweise haben die Täter schon eine Stunde vorher die Schrauben gelockert, und ein glücklicher Zufall hat die ersten drei Züge noch über die beschädigte Stelle kommen lassen, während bet dem vierten die Katastrophe hereingebrochen ist. Die Nacht- Patrouillen zur Bewachung der Strecke sind schon vor Beginn der Personalvermtnderung abgeschafft worden, da sich ihre Zwecklosigkeit erwiesen hat. (!) Zur Frage der Entschädigung äußerte sich ein Vertreter der Reichs bahn, .ehe man zu der etwa» schwierigen Rechtslage Stellung nehme, werde die Reichsbahn erst die Frage zu Prüfen haben, ob ein Attentat al» „höhere Gewalt" anzusehen sei. stuf -en Spuren -er Urheber -er Eifenbahnkatostrophe! Ta» „Berliner Tageblatt" weiß zu melden, daß die Staatsanwaltschaft, die die Ursachen der Eisenbahn katastrophe untersucht hat, bereit» eine Spur der Tä ter verfolge, die nach Gardelegen führen soll. E» sol len bereit» gestern zahlreiche Verhaftungen vorgenom men worden sein. Die Vermutung liege nahe, daß e» sich um einen Racheakt eine» entlassenen Eisenbahnbe- amten handle. 2700- Mark Selohnung für Ergreifen -es Täters. Berlin, 19. Aug. Die Deutsche Reich-bahngesell- schaft hat aus die Ergreifung der Täter, die die furcht bare Eisenbahnkatastrophe verschuldet haben, eine Be lohnung von 25 000 Mark ausgesetzt. — Der Regie- rungspräsident von Lüneburg hat gleichfalls eine Be lohnung von 2000 Mark für die Ergreifung der Täter ausgesetzt. Vellei- -es Reichspräst-enten, Reichskanzlers un- Reichsverkehrsministers. Berltn, 19. Aug. Der Reichspräsident hat an die Hauptverwaltung der Deutschen Reichsbahngesellschaft das nachstehende Beileidstelegramm gerichtet: „Die Nachricht von dem ruchlosen Attentat auf den T-Zug Berlin—Köln, das so viele Opfer forderte, hat mich tief erschüttert. Ich sprech« der Hauptverwaltung der Reichsbahngesellschaft meine herzliche Teilnahme an dem neuen Eisenbahnunglück aus und bitte, diese auch! den Hinterbliebenen der Getöteten und mit den besten Wünschen für die Genesung den Verletzten zu übermit teln. von Hindenburg, Reichspräsident." Reichskanzler Tr. Marx hat an die Hauptver waltung der Reichsbahngesellschaft folgende» Tele gramm gerichtet: „Durch verbrecherische Hand ist ein furchtbare» Eisenbahnunglück, dem zahlreiche Menschenleben zum Opfer gefallen sind, verschuldet worden.. Ich sprech« der Hauptverwaltung zu der Katastrophe meine innigste Anteilnahme aus und gebe meinem tiefen Abscheu über die ruchlose Tat Ausdruck. Lite Reichsregierung trauert mit den Angehörigen der tödlich Verunglückten und wünscht den Verletzten baldige Wiederherstellung. Reichskanzler Marx." « Berlin, 19. Aug. Der Reich »Verkehr-Minister Tr. Kröhne nahm Veranlassung, im Laufe des heutigen Nachmittags der Deutschen Retchsbahngesellschaft per sönlich sein Beileid zu dem schweren Unfall bei Lehrte auszusprechen, verbunden mit der Bitte, auch den Ver letzten und den Angehörigen der Getöteten durch die Retchsbahndirektion Hannover seine wärmste Teilnahme übermitteln zu wallen.