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— 847 — der letzten Jahre erlebt haben. Die Aufhebung des Paß zwanges hat die polizeiliche Ueberwachung des Landstreichens sehr erschwert. Die Einführung der Gewerbefreiheit hat den Stromern eine große Erleichterung gewährt, sich fälschlich als ehrsame Handwerksgesellen auszugeben und umherzu treiben. Vor Allem aber hat hier Einfluß gehabt das Neichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz durch die in der Praxis sehr wirksam durchgeführte generelle Verpflichtung aller Orts - Armenverbände Deutschlands, jedem auch nur vorübergehend daselbst sich aufhaltenden Hilfsbedürftigen die nöthige Unterstützung zu gewähren. Ist also ein Landstreicher krank, so muß er in Krankenpflege genommen werden; hat er kein Obdach, so niuß ihm dies gewährt werden; entbehrt er der nöthigen Kleidungsstücke, der Nahrung, so muß er auch damit unterstützt werden. Auf diese Weise ist das Risiko des Landstreichens sehr bedeutend abgeschwächt, seine Möglichkeit sehr erleichtert worden. So sind die Gefahren, mit denen das Vagabonden- wesen in seiner jetziger Ausdehnung unsere sittliche, sicher heitspolizeiliche und sociale Ordnung bedroht, wichtig genug, um Gesetzesänderungen genügend zu motiviren. Jedoch sind nicht einzig in dem Erlaß von Gesetzesvorschriften die Mittel zu suchen, mit welchen das Landstreichen zu bekämpfen ist. Vor Allem muß die öffentliche Meinung zur Mit wirkung herangezogen werden. Der Fundamentalgrundsatz jeder rationellen Armen pflege: daß man im Wege der Privatwohlthätigkeit milde Gaben nur dann an Bettler verabreichen soll, wenn man ihre Verhältnisse kennen gelernt, sich namentlich überzeugt l at, inwieweit die Bettler der Gaben bedürftig und würdig sind, muß mehr und mehr in der öffentlichen Meinung be festigt werden. Die Ueberzeugung, daß die planlose, gewohnheitsge mäße Verabreichung von Bettelgaben keinen Nutzen, wohl aber großen Schaden stiftet, indem dadurch die gewerbmäßige Bettelei befördert wird, sollte daher in dem Publikum immer mehr Platz greifen. Es ist bereits in vielen Gemeinden das Verabreichen von Bettelgaben bei Strafe untersagt und ourch Einführung eines Ortsgeschenkes dafür Sorge getragen worden, daß bedürftigen Reisenden die nothdürftige Unterstützung nicht fehle. Wenn die hiesige Amtshauptmannschaft nach dem Vor gänge der Amtshauptmannschaft Pirna eine solche Maßregel für ihren ganzen Verwaltungsbezirk einzuführen beschlossen hat (siehe die Bekanntmachung derselben am Eingänge dieses Blattes), so glaubt sie der hierbei nöthigen Mitwirkung des Publikums sich um so mehr versichert halten zu können, als nur auf ein gemeinsames Eingreifen der Gemeinden, wie Privaten, dem so überaus lästigen Bettel und Vagabondenwesen wirksam begegnet werden kann. Tagesgeschichte. Dippoldiswalde, 26. Nov. Die in den letzten Tagen und Nächten stattgehabten, wenn auch nicht heftigen, doch immer andauernden Schneefälle haben ein abermaliges verspätetes Eintreffen der Posten von Dresden und Alten berg zur Folge gehabt. Dresden. König Albert und Prinz Georg sind am Montag aus Berlin wieder hierher zurückgekehrt. Am Dienstag begaben sich dieselben mittelst Extrazuges nach Jahnishausen, woselbst größere Jagden stattfinden. — Nach einer Verordnung des königlichen Justizmini steriums ist die zeitherige Benennung „Advocat" als erloschen zu betrachten, und es haben sich vielmehr sämmtliche zeit herige sächsische „Advocaten" der Functions-Bezeichnung „Rechtsanwalt" zu bedienen, — Dem Vernehmen nach hat der Vorschlag, einen einzigen und allgemeinen Bußtag für's ganze deutsche Reich einzuführen, die Aussicht auf Verwirklichung und hört man bereits, daß als solcher zukünftiger Reichsbußtag der Freitag nach dem Todtensonntag in Aussicht genommen ist. — Als Forst- und Landwirthschaft in Tharandt noch vereint waren, betrug die höchste Zahl der Studirenden an der dortigen Akademie einst 117. Jetzt ist die Zahl der studirenden Forstleute auf die noch nie erreichte Höhe von 119 gestiegen. — Das große Loos der sächsischen Lotterie ist nach Berlin gekommen. Als am Sonnabend die Depesche dort eintraf und der Loosverkäufer einem armen Droschkenkutscher, der die Nummer 83041 in einem Achtel bei ihm gespielt, die frohe Nachricht von seinem Glücke mittheilte, wurde der selbe in eine solche Aufregung versetzt, daß er bitterlich zu weinen anfing: — er hatte das Loos, um seinen Einsatz zu retten, vor einigen Tagen in einer Schankwirthschaft ver kauft, weiß auch nicht einmal an wen, so daß auch die Hoffnung auf die Generosität des Käufers wohl zu nichts werden wird! Chemnitz. Hier hat die Fabrikation baumwollener Handschuhe neuerdings einen erheblichen Aufschwung ge nommen. Für amerikanische Rechnung liegen ganz bedeu tende Bestellungen vor. In dem benachbarten Thüringen ist in der Wollen-Industrie gleichfalls eine fortschreitende Geschäftsentwickelung zu constatiren. Der Absatz von wol lenen Damenkleiderstoffen ist ein überaus flotter, so daß, uni den Anforderungen nur einigermaßen Genüge leisten zu können, fortwährend neue Maschinen aufgestellt werden müssen. Die Fabriken sind noch auf lange Zeit hinaus beschäftigt. Crimmitzschau. Die Ehefrau eines hiesigen Tuch machers wurde vor einigen Tagen von Vierlingen ent bunden, welche jedoch sämmtlich bald nach der Geburt starben. Berlin. Nächsten Freitag wird der König von Dänemark nebst Gemahlin zu einem kurzen Besuch am hiesigen Hofe hier eintreffen. Ein König von Dänemark war wohl seit 30 Jahren nicht in Berlin, und man sieht dem jetzt bevorstehenden Besuche mit um so größerer Span nung entgegen, als nach den Kriegen des jetzt ablaufenden Jahrzehnts wiederholt von einer solchen Begegnung die Rede war. Man weiß, daß die Angehörigen des ehemaligen Kron prinzen von Hannover, jetzigen Herzogs von Cumberland, eifrig bemüht sind, einen Ausgleich zwischen diesem und der Krone Preußens herbeizuführen. Wenn jetzt die Schwieger eltern des Herzogs am hiesigen Hoflager eintreffen, so liegt die Vermuthung nahe, daß der Zweck der Reise mit der Förderung dieser Angelegenheit zusammenhängt. Auch die Kaiserin wird bereits Freitag — früher, als es in der Absicht lag — hierher zurückkehren. — Die Bevollmächtigten Deutschlands und Oesterreich- Ungarns in Sachen der handelspolitischen Einigung beider sind am 17. November in Berlin zusammengetreten. Es handelt sich zunächst um eine vorläufige Verständigung über die Grundlagen, auf denen ein Zoll- und Handelsvertrag zwischen den beiden großen Wirthschaftsgebieten möglich und aussichtsvoll scheint. Erst wenn solche Grundlagen gefunden sind, sollen die eigentlichen Vertragsverhandlungen beginnen. Baden. Der badische Landtag ist vom Großherzog eröffnet worden mit einer Thronrede, worin gleichfalls ein Ausfall in den Einnahmen — hauptsächlich denen der Staats eisenbahnen — und die dadurch bedingte Nothwendigkeit einer stärkeren Anspannung der Steuerkraft des Landes, zu gleich jedoch die Zuversicht auf die baldige Wiederkehr gün stigerer wirthschaftlicher und Finanzzustände ausgesprochen wird. Oesterreich-Ungarn. Die Frage wegen Bewilligung eines festen Heeresbestandes auf eine Reihe von Jahren hinaus beschäftigt jetzt die parlamentarischen Kreise Oester reichs und Ungarns in ähnlicher Weise, wie vor 5 Jahren