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— 862 — Berlik. Am Mittwoch Nachmittag 2 Uhr ist im weißen Saale des königl. Schlosse« der deutsche Reichs tag eröffnet worden, und zwar im Auftrage deö Kaisers durch den Präsidenten deö Reichskanzleramtes, Staatsminister Delbrück, der die Eröffnungsrede verlas, welche den günstigen Slqnd deö Reichs-HauShalt-Etats und der sonstigen Verhält nisse und Einrichtungen de« Staate« darlegte. Die Rede schloß wie folgt: Wenn im Handel und Verkehr gegenwärtig eine der Stag nationen stattfindet, wie sie im Laufe der Zeit periodisch wieder kehren, so liegt es leider nicht in der Macht der Regierungen, diesem Ucbelstande abzuhelfen. Jedenfalls aber hat diese Erscheinung keine Unsicherheit der politischen Verhältnisse und namentlich des äußeren Friedens zum Grunde. Wie Sie im vorigen Jahre mit dem Ausdruck des Vertrauens aus die Dauer des Friedens empfangen werden konnten, so war seitdem fortwährend und ist noch heute die dauernde Er haltung des Friedens nach menschlichem Ermessen gesicherter als sie es jemals in den letzten zwanzig Jahren vor der Herstellung des Deutschen Reiches gewesen ist. Es genügt zur Aufrechterhaltung des Friedens der feste Wille, in dem Se. Maj. der Kaiser sich mit den ihm befreundeten Monarchen einig weiß, und die Ueberein- stimmung der Wünsche und Interessen der Völker. Die Mächte, deren Einigkeit in einer früheren Periode unseres Jahrhunderts Europa die Wohlthat eines langjährigen Friedens gewährte, stützen denselben auch heute, und der Besuch, von welchem Se. Maj. der Kaiser heimkehren, die herzliche Ausnahme, welche Sie bei Sr. Maj. dem König von Italien gesunden haben, befestigen die Ueberzeugung, daß die innere Einigung und die gegenseitige Befreundung, zu denen Deuschland und Italien gelangt sind, der friedlich fortschreiten den Entwickelung Europa's eine neue und dauernde Bürgschaft gewähren. — Die erste Sitzung des Reichstages am 27. Oktober war beschlußunfähig, da gegen 40 Abgeordnete zur Beschlußfähigkeit fehlten. Es bildet dieser Vorgang wiederum eine klassische Illustration zu dem Schulze'schen Anträge auf Diätenbewilligung an die Reichstags-Abgeordneten, der abermals, jetzt schon zum neunten Male, vom BundeS- rathe abgewiesen worden ist. Im preußischen Landtage kennt man derartige Vorgänge nicht, die nur dazu geeignet sind, den Parlamentarismus zu diskreditiren. — In der Sitzung am 28. Octbr., in der 204 Abgeordnete anwesend waren, wurde Forckenbeck zum Präsidenten, Frhr. von Schenck- Stauffenberg zum Vicepräsidenten gewählt. — Nachrichten aus Barzin zufolge ist Fürst Bis marck jetzt wieder nervösen Anfällen ausgesetzt, aber sie stellen sich seltener und weniger heftig ein. Er nimmt auch an Jagdpartieen Theil und liegt besonders dem Fischfänge in seinen Forellenteichen ob, widmet auch der Züchtung dieser Fische eine nicht geringe Sorgfalt und ist nach seiner Aeuße- rung stet« darauf bedacht, eine Sonderung der jüngeren Brut zu veranlassen, weil, wie in andern Sphären, die Kleinen von den Großen gefressen werden. Aus der Herzegowina. Hier wird der Krieg in aller Stille, aber mit großer Erbitterung weiter geführt; da« Eingreifen der Mächte auf diplomatischem Wege hat bis jetzt nur die Ruhe in Serbien und Montenegro aufrecht erhalten können, ohne Erfolg im eigentlichen aufständischen Gebiete zu erzielen. In Trebinje haben die Insurgenten 16 türkische Soldaten mit abgeschnittenen Nasen zurückgeschickt; in Bosnien haben die Türken wieder mehrere christliche Ortschaften aus gebrannt und die Bevölkerung niedergemetzelt. Anderswo sind auf Befehl der türkischen Obrigkeit Insurgenten, die, den Versprechungen der Pforte trauend, ihre Waffen nieder gelegt hatten, ohne Prozeß aufgehängt worden. Infolgedessen haben die europäischen Mächte von Neuem Vorstellungen in Konstantinopel erhoben, und die Pforte hat versprochen, Untersuchungen cintreten zu lassen, sowohl hierüber, als auch über die jüngsten Grenzverletzungen gegen Serbien, die au« Mangel an Lebensmitteln von türkischen Soldaten unternommen wurden. „Mangel an Lebensmitteln!" Darin spiegelt sich genugsam die ganze Furchtbarkeit des kleinen Krieges in den Steinschluchten der Herzegowina. Der Herr Präsident. Original-Novelle aus der Gegenwart. (5. Fortsetzung.) Unter diesen Umständen erachtete eS Oswald als ein wahres Glück, als er eines Morgens die Thür seines KabinetS lebhaft aufreißen und Elbert, der am Abend vorher aus England zurückgekehrt war, hereinstürmen sah. „Nun wie ist es Dir denn in den drei Wochen, in denen wir uns nicht gesehen haben, gegangen, Bruderherz?" rief Ludwig, den Freund umarmend: „Munter und vergnügt siehst Du gerade nicht aus! Mir hat Gott sei Dank keine Ader weh gethan, nicht einmal die Seekrankheit habe ich be kommen und das Geschäft ist über alle Erwartung gut ge gangen. Doch ich habe Dir ja darüber von Liverpool aus geschrieben." „Ich weiß es, lieber Ludwig," antwortete Oswald, „ich empfing Deinen Brief zufällig an demselben Morgen, wo mir die verwünschte Stelle angetragen wurde, dieses un glückliche Amt, das mich seit vierzehn Tagen keinen Augen blick mehr froh werden ließ." „Verwünschte Stelle — unglückliches Amt?" fragte ver wundert Elbert, „was willst Du damit sagen? Ich ver stehe Dich nicht, bist Du nicht mehr im Justiz Collegium?" „Vor der Hand nicht mehr", antwortete Oswald verdrieß lich, „weißt Du Nichts davon?" „Kein Sterbenswörtchen weiß ich!" versicherte Elbert, „wer soll mir den» etwas gesagt haben? Ich bin erst heute Nacht angekommen, mit Mathilden habe ich noch nicht über Dich gesprochen und mein erster AuSgang diesen Mor gen war zu Dir." „Nun, so kann ich Dir als funkelnagelneue Neuigkeit mittheilen, daß ich seit ungefähr 14 Tagen interimistischer Hauptstaatskassirer bin." Und er erzählte dem Freunde, wie er zu dem Amte gekommen. Elbert hörte stillschweigend zu. Al« Oswald aber geendet, sprach er mit gekreuzten Armen im Zimmer auf- und abgehend: „Ein offenes Wort, Oswald, aber diese Sache geht mir nicht mit rechten Dingen zu; der Filou, der Borgsdorf führt etwas im Schilde, es mag nun sein, was eö will, aber er hat gewiß seine geheime Absicht ge habt, als er Dich dem Fürsten vorgeschlagen. Er hat doch nicht etwa gar ein Auge auf Deine —?" Ludwig voll endete nicht und biß sich, ärgerlich darüber, daß er schon zu viel gesagt, auf die Zunge. Oswald aber, der die Gedanken seines Freundes er- rieth, wurde purpurroth im Gesicht und knirschte mit den Zähnen. „Ich verstehe Dich, Ludwig; diese unglückselige Spielerei Fanny'S hält er vielleicht für etwas Anderes, aber dann wehe ihm . . ." Er schwieg einen Moment, dann sprach er, seine Aufregung mit sichtlicher Anstrengung nieder kämpfend: „Aber laß uns jetzt darüber schweigen, ich fühle, wie mir das Blut zum Kopfe steigt, und das ist nicht gut. Ich brauche jetzt einen kühlen Kopf und ein klares unge trübtes Auge. Erzähle mir etwa« von Deiner Reise." „Nun, wie ich schon gesagt, die ist über Erwartung gut abgelaufen! Ist das ein Leben in diesem England! Ueberall arbeitende Dampfmaschinen, sausende Lokomotive», Eisen bahnen, Fabrikschlote, so groß wie der Thurm zu Babel. Dampfschiffe, Segelschiffe, Alles drängt und treibt sich in seinen weiten Häfen durcheinander. Doch komm, laß uns eine Morgenpromenade machen, in frischer Luft erzähle ich lieber.