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Die 23jährige Seiltänzerin Miß Victoria hatte bei ihrem I zweiten Austreten am Montag im „Hosjäger" zu Berlin das Un- j glück, mit dem Vclociped vom Seile zu stürzen. Das Unglück entstand dadurch, das das Velociped mit dem Hinterrade in eines der Leitseile gerieth; dasselbe entlang glitt, dadurch natürlich über das Sicherheitsnetz kam und so den unglücklichen Sturz herbeisührte, der der Künstlerin das Leben kostete. Das Velociped fiel zwischen zwei leerstehende Stühle, Miß Victoria selbst mit der Brust aus die bloße Erde. Im Falle selbst fügte sie sich Verletzungen am Fuß und Arme zu, die zu kuriren gewesen wären; doch der Fall auf die Brust gab solche Erschütterungen, daß durch innere Verletzungen der Tod der Künstlerin nach kurzer Zeit eintrat. Sie kam nach dem Sturze nicht wieder zur Besinnung. (Phosphorsreie Zündhölzchen.) Im Jnseratentheile des „Tr. I." richtet ein Menschenfreund an Gleichgesinnte „eine herzliche Bitte" um Beihilfe für Beschaffung von Maschinen u. s. w. zur ersprießlichen Anfertigung der von den Herren Kleeberg u. Rock stroh erfundenen und von der sächsischen Regierung geprüften und öffentlich empfohlenen absolut phosphorfreien Streichzündhölzchen, welche 1. nicht ausdünsten, noch vergiften, 2. nicht durch gewöhn liche Wärme sich von selbst entzünden, da sie erst bei einer Hitze von 142 Grad Celsius, wo auch bereits unpräparirtes Holz an brennt, entflammen, und 3. sich dabei mit wesentlich weniger Ge fahr eben so billig Herstellen und eben so bequem gebrauchen lasten, als die höchst gefährlichen Phosphorstreickhölzchen, ohne deren schäd liche Eigenschaften auch nur im Geringsten zu theilen. Die Expe dition genannten Blattes erklärt sich im Interests der Sache zux An nahme von Liebesgaben und deren Weiterbesorgung bereit. Als Curiosum wird vom Stuttgarter Schützenfest erzählt, daß ein junger schmucker tyroler Schütze an seinem Hute einen Papierstreifen mit der Aufschrift. „Ledig" trug. Schwabenmädel sollen bei seinem Anblick mit Schiller gesagt haben: „Dem Manne kann geholfen werden." Telegraphische Depesche. Dresden, 13. August. Gestern ist auf seinem Gute Weigödorf der dort auf Urlaub befindliche Prä sident des evangelischen Landeöconfistoriums, wirklicher Geheimer Rath von KönneriH, 73 Jahr alt, am Herzschlag gestorben. Der Dechantshof in Rannazell. Von Schmied-Schwarzenberg. (Fortsetzung.) Der junge Kaplan — Herr Eisen — kehrte von einer entlegenen Schule zurück; der Dechant ließ ihn rufen. Der Caplan erschien in dem dunklen Gemache vor dem finsteren Dechant ernst und fest. Sein ganzes Wesen zeigte Muth und Entschlossenheit. Sein Gesicht war nicht schön, aber geistreich, sein feiner Mund verrieth ein sanftes Gemüth. „Sie sprachen gestern von. reformatorischen Ideen", sprach der Dechant kalt; „welcher Art sind diese wohl?" „Befreiung der Menschen vom hierarchischen Joche!" erwiderte der Caplan kurz und bestimmt. „Eitler Wahn!" entgegnete der Dechant; „eitel immer, aber schlechthin eitel, nachdem durch die Unfehlbarkeit des Papstes die Macht der Hierarchie für ewige Zeiten befestigt ist!" „Durch die sich die eitle Hierarchie die Krone aufgesetzt hat, in welcher der Tod Hof hält!" erwiderte der Caplan stolz. „Die Krone ist zu schwer, sie wird die Trägerin ohn mächtig und hinfällig machen. Der Mensch versuche die Göller nicht!" „Sie werden anders denken lernen", sagte der Dechant, sich beherrschend, „wenn Sie die Widerspenstigkeit der Welt gegen die Kirche erfahren haben. Die Menschen müssen be herrscht und zu ihrem Heile gezwungen werden, und dazu ist eine allmächtige Kirchengewalt nothwendig. Ich wünsche, daß Sie in der Schule mit eiserner Strenge verfahren!" „Mit vernünftiger Strenge!" sagte der Caplan. „Die Vernunft hat zu schweigen!" erklärte der Dechant aufgebracht. „Sie haben sich genau nach meinen Vorschriften zu richten und nicht weiter darüber zu vernünfteln!" „Das wollen wir sehen!" entgegnete der Caplan stolz. „Ja, das wollen wir sehen!" sagte der Dechant, sich aufbäumend. Der Caplan verneigte sich und ging. „Das ist ein gefährlicher Mensch!" sagte der Dechant mit glühendem Gesicht, ergriff die Feder und schrieb an den Bischof weiter. „Er wird mir auch noch den zweiten Caplan verführen und die Gemeinde aufwiegeln!" Diese Worte hatte er eben geschrieben, als ein Jesuit bei ihm eintrat, der in Geschäften hierher gereist war. Der Dechant verriegelte die Thür, und Beide blieben lange allein beisammen. III. Gewitterwolken. Ja, der zweite Caplan hatte Recht gehabt: der DechantS- hof in Rannazell war eine Zwingburg des UltramontaniSmuS. Nirgends im Lande hatte er seine absolute Herrschaft so kühn entfaltet, wie in dem Bezirk dieser Zwingburg. Nicht weit weg vom Dechantshof steht ein altes Schloß; in demselben hausten bis in die gegenwärtige Zeit die welt lichen Polizeidiener der heiligen Kirche: der Landrichter mit seinen Untergebenen. Sie mußten die Befehle des DechantS pünklich befolgen, so lautete ehemals die Instruction an den Landrichter. Die Beamten haßten den Dechant; aber sie fürchteten ihn auch, weil er das Wehe ihrer Familien in seiner Schreibfeder trug. Die Gemeinde haßte den Dechant auch, aber sie fürch tete den Landrichter und beugte sich unter dem Joche der Kirche. Wenn die Kircheuglocken läuteten, erschraken die Frauen weit herum und drängten ihre grollenden Männer, Söhne und Knechte zur Eile, daß sie nicht zu spät in den Gottesdienst kämen, denn gar Mancher hatte sein Säumen schon bitter im Landgerichte verbüßen müssen. Der Dechant hatte die Gemeinde als widerspenstig gegen die Kirche geschildert und beigefügt: Wer gegen die Kirche rebellisch ist, ist es auch gegen den Staat; der Altar ist die Stütze des Thrones. So wurde denn der Landrichter zum Scharfrichter des DechantS gemacht, uni die Gemeinde „in Zaum und Zügel zu halten", wie man sagte. Aber die despotische Strenge erzeugte in den Gemülhern der Bewohner von Rannazell Erbitterung; eS bedurfte nur eines kleinen Anlasses, daß sie sich offenbarte. Ein solcher Anlaß bot sich bald nach der Ankunft des jungen Caplans. Es traf ihn die Reihe, in der Dorfkirche zu predigen. Er trat das erste Mal in Rannazell auf der Kanzel auf; daher große Neugierde. Die Kirche war diesmal zum Erdrücken voll. Er predigte über das sanfte Joch und die leichte Bürde des wahren ChristenthumS. Seine Rede entsprach dem Inhalte; sie wirkte auf Viele wie ein Sonnenstrahl, der in eine Zwingburg fällt und die kalten, öden Wände beleuchtet, wodurch die Gefangenen em pfinden, wo sie sind und wo sie sein könnten. Sie erweckte Sehnsucht nach Befreiung von dem harten Joche und der schweren Bürde unter der Hierarchie und erhöhte die Ver bitterung gegen die herrschsüchtigen Geistlichen. Auch im Dechantshof blieb die Predigt nicht ohne Wirkung.. Der Dechant, der älteste Caplan und der Jesuit, der