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Freitag. Nr. 4V. 24. Mai 1872. Weißerih-Ieitung. Amts-Matt Mr die Kerichts-Aemter Md Sladträthe ;u Dippoldiswalde und Iraumstein. Verantwortlicher Nedactcur: Carl Jehne in Dippoldiswalde. Dieses Blatt erscheint wöchentlich zwei Mal: Dienstags und Freitags. Zu beziehen durch alle Post-Anstalten und die Agenturen. Preis Vierteljahr!. 18'/, Ngr. Inserate, welche bei der bedeutenden Auflage des Blattes eine sehr wirksame Verbreitung finden, werden mit 1 Ngr. für die Spalten-Zeile berechnet. Die verunglückte Revision der Schweizer Bundesverfassung. Die Schweiz, die in ihren Bergen auch manchem ver folgten deutschen Freiheitskämpfer ein Asyl und in ihrer Erde ein Grab gewährt hat, für deren politisches Geschick sich daher ebensowohl, als wegen ihrer zu sieben Zehntel deutschen Be völkerung bei uns ein lebhafteres Interesse kund giebt, ist in ihrem Verfassungsleben an einer Klippe angekommen, die zu umschiffen in der That alle Kraft und Geschicklichkeit der er- ährensten Steuerleute erfordern wird, wenn nicht daS Ver- »ängniß das Staatsschiff zum Strudel reißen soll. Schon lasten ich unglückweissagende Stimmen dahin vernehmen. Am 12. Mai st nämlich bei der Abstimmung über die so nothwendige Revision und Reform der Bundesverfassung die nationale Parthei unterlegen und die Partikularsten haben gesiegt, also, daß es bei der bisherigen Verfassung bleibt. Diese besteht seit dem 12. September 1848 und bezeichnete insofern einen Fortschritt gegen den alten Bundesvertrag vom 7. August 1815, als durch sie die Fortbildung des Staatenbundes zum Bundesstaate nicht nur angebahnt, sondern hergestellt werden sollte. Bekanntlich besteht die Schweiz aus 22 einzelnen Cantonen, deren jeder in seiner inneren Verwaltung völlig frei und von den anderen unabhängig ist, die aber, zu einem Bunde vereinigt, für die nothwendigsten allgemeinen Ange legenheiten, als diplomatischer Vertretung, Kriegserklärung und Kriegführung, Staatsverträgen rc., sich in dem BundeS- rathe ein Organ geschaffen haben, das die von deutscher, französischer, italienischer, rcknanischer Bevölkerung bewohnten Cantone einigermaßen als staatliches Ganze zusammenhält. Dem Auslande gegenüber, namentlich wenn die Wogen, wie in den letzten Jahren, höher gehen, wenn die Kriegsfurie die Völker entzündet, erwies sich jedoch schon längst dieses Band als viel zu schwach. Selbst die scheinbare Freiheit, die die einzelnen Cantone in ihren inneren Angelegenheiten sich be wahrt hatten, erwies sich als ein Trugbild; denn die eben herrschende Parthei bediente sich ihrer augenblicklichen Macht gar oft tiur zur Unterdrückung ihrer Gegner. Kurzum, die Schweiz, welche die Organisation ihrer Streitkräfte, die Pflege der Justiz, des Unterrichtswesens, die Niederlassungs angelegenheit rc. den Cantonalregierungen überließ, war ein „Staatenbund" in des Wortes schlimmster Bedeutung, aber weit entfernt, ein „Bundesstaat" werden zu wollen. — Wie gesagt, dieser Zustand konnte als ungefährlich erscheinen, so lange nur das Schnarchen des deutschen Bundestages die europäische Ruhe störte; aber als 1866 und 1870 Heller Waffenklang den Continent erschütterte, da konnte man sich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß selbst die von ganz Europa gesicherte Neutralität der schwächeren Staaten auch der Schweiz vor den Eroberungsgelüsten einzelner Großmächte keine Garantie biete. Erst hegte man Befürchtungen von Frankreich, seit Sedan aber von dem unbestrittenen Ueberge- wichte Deutschlands. Konnte man auch überzeugt sein, daß Deutschland, wie eS den ihm aufgedrungenen Kampf nur zur Vertheidtgung, nicht aber zum Zwecke der Eroberung geführt hatte, keines wegs die staatliche Selbstständigkeit der Schweiz gewaltsam anzutasten versuchen würde, so war doch der Umstand, daß sieben Zehntel, also das numerische und geistige Uebergewicht der ganzen Schweizer Bevölkerung, Deutsche seien, nicht zu übersehen. Sollten diese nicht, nach dem allgemeinen Gesetze der Anziehungskraft, das in der Politik ebenso wie in der Natur herrscht, sich nach ihrer mächtiger sich entfaltenden Nationalität mehr hingezogen fühlen? Der Versuch, in der Schweiz Abscheu und Furcht vor Preußen, vor der „Preußen seuche" zu verbreiten, konnte höchstens als ein Mittel gelten, dieser Anziehungskraft nur so lange entgegen zu wirken, als die Aufstachelung der Leidenschaften gelingen würde, das aber sofort sich als hinfällig zeigen mußte, sobald die ruhige Ueberlegung Platz greifen würde. DaS von den Nationalgesinnten sofort als einzig richtiges erkannte Mittel: eine straffere Bundesverfassung in« Werk zu setzen, fand, als die Ereignisse des französischen Krieges noch fest im Gedächtniß der Schweizer lebten, viel Anklang. Die Nationalparthei behauptete das Feld und setzte eS durch, daß die Bundesverfassung in ihrem Sinne revidirt wurde. Während der Revisionsarbeit jedoch gewann die alte Abneigung der die Schweiz bewohnenden Nationalitäten (Deutsche, Franzosen, Italiener, Romanen) die Oberhand; mit den Staatenbündlern (Föderalisten) verbanden sich die Pfaffen, die Socialisten, vor Allem aber die nichtdeutschen Elemente, und so ist denn am 12. Mai das Abstimmungs resultat erfolgt, dessen Folgen sich wohl allzubald zeigen werden. Denn die geschlagene, die Nationalparthei, ist keines wegs schwach, und eS steht zu erwarten, daß dieselbe, bisher schweizerisch-national, sich zur deutsch-nationalen gestalten werde. Denn dahin wird sie gedrängt von jenen Elementen, die schon lange sich zu ihren Nationalitäten, den Franzosen und Italienern, mehr hingezogen fühlen, die aber niemals im Stande sein werden, eine schweizerische Nationalität zu repräsentiren, wenn die sieben Zehntel Deutsche nicht wollen. Bisher haben sie eben gewollt, aber wer wollte noch zweifeln, daß nach solchen Erfahrungen, wie die des 12. Mat, der Tag fern sein sollte, wo die Berge des Berner Oberlandes und Graubündens die südlichen Grenzmarken des deutschen Reiches sein werden? ES käme ja hier keineswegs auf eine gewalt same Eroberung, sondern auf eine, durch die gegenwärtige Verfassung gewährleistete Volksabstimmung an. Wer sich aber dem Reiche freiwillig anschlösse, den würde dieses auch zu schützen wissen! —