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Eine fromme Lüge. Erzählung von Louise von Gall. (Fortsetzung.) 4. Die glückliche Mutter. Auf dem Schlosse war Alles in Bewegung. Die junge Gräfin wurde erwartet, und die alte Gräfin, ihre Muller, war eben abgereist, weil sie sich nicht stark genug fühlte, ihrer Tochter gegenüber den Tod deö geliebten Enkels zu verbergen, obgleich sie auch vollkommen die fromme Lüge des Schwiegersohnes billigte. Ein Befehl des Herrn hatte sämmtliche Schloß bewohner, vom Rentmeister bis zum Kuhjungen, in dem Saale versammelt. Mitten unter ihnen, aber doch durch einen ehrerbietigen Kreis von ihnen getrennt, stand der Graf Clemens, bleich, mit zusammengezogenen Brauen und ließ forschend seine Blicke auf die Um gebung schweifen, um zu sehen, ob auch kein Einziger fohle. Endlich sagte er mit scharfer Stimme: „Ich habe Euch Alle hierher rufen lassen, um Euch einen gewissen Befehl zu erthcilen. In einer Stunde wird die Gräfin vielleicht eintreffen und sie darf nicht den Tod — unseres —" hier stockte die scharfe Rede des Mannes etwas — „unseres Kindes erfahren. Der Sohn des Pachters Art mann wird ihr statt ihres Kindes entgegengebracht werden. Gelingt es nun mit Gottes Hilfe, und sie hält wirklich den kleinen Clemens für unseren Bernhard, so darf ihr Niemand, nicht heute und nicht später, den Jrr- thum benehmen. Wer dies mein Verbot überschreitet, und absichtlich oder unabsichtlich der Gräfin die Wahr heit auch nur ahnen läßt, wird — nicht etwa des Dienstes enlassen, die Angst davor wird Keinen vor sichtig machen, der es nicht schon ist, sondern wer den Tansch verräth, wird — das schwöre ich bei meiner gräflichen Ehre, — von mir eigenhändig nieder geschossen wie ein toller Hund! Wer aber schweigt, nicht blos gegen die Gräfin, sondern auch gegen Jeden außerhalb des Schlosses, erhält den vierten Theil seines Gehaltes am Schlüsse des Jahres als Zulage. Geht!" Und wortlos, auch ohne nur zu flüstern, verließen Alle, einer nach dem andern den Saal; der Graf aber bestieg sein Pferd, um seiner Frau entgegen zu reiten, obwohl diese Begegnung ganz den Stempel des Zu fälligen tragen sollte, da er der Gräfin nichts vom Briefe des Badearztes verrathen durfte. Vielleicht war Graf Clemens seitdem er lebte noch nicht in solcher GemüthSbewegung gewesen, wie jetzt und es war nicht der schnelle Trab seines schlanken englischen Pferdes, was sein Herz so hoch schlagen ließ. Denn er liebte wirklich seine Frau, vielleicht nur, weil sie in ihrer apathischen und doch reizbar nervösen Gemüthsstimmung den vollsten Gegensatz zu seinem heftigen, eigensinnigen und harte» Wesen bildete. Die Gräfin Agnes war nicht schön, denn sie war zu blaß, zu mager und zu kränklichen Ansehens, um trotz regelmäßiger Gesichtsbildung, schöner blonder Haare und der weißesten Zähne dafür zu gelten, überdem trugen ihre Züge den Stempel einer Apathie, die ihren großen blauen Augen alles Leben raubte, jener Apathie, die man bei Mensche», die viel erlebt haben, Blasirt- heit nennt. Blasirt konnte man aber die Gräfin nicht nennen, denn sie hatte nichts erlebt, keine Schicksale und keine Leidenschaften. Der dankbaren Liebe zu ihren Eltern war das Gefühl, das sie für ihren Ge mahl hegte, sehr ähnlich und kein anderer Mann hatte je selbst nur ihre Phantasie in Anspruch genommen. Wie ruhig sie ihm sich geschenkt, hatte Clemens wohl auch bemerkt und vielleicht, bei seinem haupt sächlich in Widersprüchen wurzelnden Charakter, hatte gerade dies ein lebhaftes Gefühl für sie in ihm erweckt. Eben so klar sah er auch, daß die Liebe zu ihrem Kinde den Stempel des Leidenschaftlichen trug, sah wohl, wie jeden Morgen beim ersten Anblick deö kleinen Bernhard die bleichen Wangen seiner Frau sich hoch rötheten, und ihre matten Augen erglänzten, sah wohl, daß dies Kind allein den Schlüssel zu ihrem innersten Herzen besitze, und der ganze Reiz ihres Lebens ge worden. Darum glaubte er auch und Jeder, der Gräfin Agnes kannte, mußte es mit ihm glauben, sie werde den Tod dieses vergötterten Kindes mit dem Leben oder mit der Vernunft bezahlen. Der Graf war im scharfen Trabe wohl eine halbe Meile geritten, als aufwirbelnder Staub ihm die Nähe eines Wagens verkündete. Er hielt die Zügel seines Pferdes an, um genauer zu sehen, und als er mit der Hand die Angen beschattete, dünkte es ihm wirklich, als wehe der bekannte blaue Neiseschleier seiner Frau aus dem entgegenkommenden Wagen auf. Als er sie mit Gewißheit erkannte, schnürte sich seine Brust auf eine Weise zusammen, daß er nicht mehr Athem holen konnte. Wenn sie nun den Betrug durchschaute, das fremde Kind nicht für daS ihrige erkannte, war es dann nicht zehnmal schlimmer, als wenn er ihr offen und schonend den gemeinsamen Ver lust mittheilte? Je näher sie kam, desto mehr schwankte er, ob er den so fest beschlossenen Plan durchführen solle, und als er am Schlage hielt und die Gräfin ihm die Hand entgegenstreckte, hatte er denselben ganz und gar aufgegeben. — Als sie aber mit feuchten Augen und zitternder Stimme frug: „Wie geht es dem Kinde?" konnte er nichts anders hervorbringen alS: „Gut, vortrefflich!" Sie warf sich zurück im Wagen, sie faltete die Hände und die Augen zum Himmel erhebend, rief sie leidenschaftlich: „Guter Golt, ich danke dir! Wie sieht er aus? Ist er stärker geworden? Läuft er viel? Spricht er etwas?" „Er sieht so gut aus," stotterte der Graf, indem er den Hals seines erhitzten Pferdes strich, „daß du ihn gar nicht wieder erkennen würdest. Als mir ihn deine Mama entgegenbrachte, habe ich ihn nur daran und an den Kleidern erkannt. Er hat sich unendlich zu seinem Vortheil verändert — und läuft wie ein Hirsch!" „O mein Gott! wäre er nur hier; diese Viertel stunde wird mir fürchterlich lang werden!" „Aber," frug der Gemahl, „warum kommst du über Hals und Kopf, warum wartetest du nicht ab, bis ich dich hole? Morgen wollte ich abreisen." „Verzeihe, aber mich überfiel eine tödtliche Angst wegen des KindeS; ich träumte fortwährend entsetzliche Dinge. — Wie geht es der Mama?" „ Sie ist heute Morgen abgereist, weil dein Vater schrieb, er habe einen heftigen Katarrh — du kennst ihre Aengstlichkeit." Der Graf stieg nun vom Pferde, gab eS dem Bedienten und setzte sich zu seiner Frau in den Wagen, die sich in stillseliger Erwartung an seine Schulter lehnte und mit sehnsüchtigem Auge nach der Gegend blickte, wo das Schloß, welches ihren größten Schatz, ihr Kind barg, hinter Bäumen lag.