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31 Bütte; es war also schon Jemand da gewesen, um Wasser zu holen. Der Brunnen war ziemlich tief, das Wasser wurde vermittelst eines Gefäßes, was an einer langen Stange befestigt war, geschöpft und her aufgezogen; dieses Gefäß fehlte. Das wunderte die Magd, und indem sie darnach suchte, beugte sie sich auch über den Rand des Brunnens. Entsetzt fuhr sie zurück. Gerade als sie in den Brunnen hinabsah, er tönte jener Angstgeschrei, jener Hülferuf, den sie gehört; er kam aus der Tiefe des Brunnens, matt und schon wie ersterbend; sie hatte auch dort etwas Schwarzes, einen dunklen Körper bemerkt. Es lag ein Mensch in dem Brunnen, ein Ertrinkender. Die Magd that einen lauten Schrei. Die Nach barn wachten auf, Fenster öffneten sich, Thüren gingen auf, Leute kamen, Männer, Weiber, Alt und Jung; bald war das ganze Dorf vor und auf dem Platz am Brunnen versammelt. Alles rannte durch einander, fragte sich betroffen, flüsterte und wehklagte. Rasch hatten einige Besonnene die nöthigen Werkzeuge her beigeschafft, ein Bursche stieg in den Brunnen hinab und kam nach einer Weile in athemloser Spannung glücklich mit dem Geretteten an das Tageslicht zurück. Es war ein Mädchen, jung und schön, sehr schön, das konnte man auch jetzt noch sehen, trotzdem kein Lächeln um die rothen Lippen spielte, sondern das nasse Haar über das todtenbleiche Gesicht hing und die Mienen von Angst und Schrecken entstellt waren. Die Brust des Mädchens athmete schwer, sie hatte die Augen ge schloffen, aus einer Wunde an der Stirne floß Blut. „Ach Gott, sie stirbt!" rief eine alte Frau. „Nein, sie stirbt nicht," entgegnete ein Anderer; „aber stürzt sie, sie hat Wasser geschluckt!" Schon machte man Anstalt, das verkehrte Rettungs mittel anzuwenden, als der Lehrer des Ortes hinzutrat und es verhinderte. „Bringt sie nach Hause," sagte er, „legt sie auf's Bette, reibt den Körper tüchtig mit wollenen Tüchern, und ihr werdet sehen, daß sie bald wieder zu sich kommt. Frau," wendete er sich an seine Gattin, „Du verstehst die Sache, gehe hin und hilf den Leuten!" Man hatte die Verunglückte einstweilen auf den Rasenfleck neben dem Brunnen gelegt. Einige Bursche waren schnell fortgeeilt, nm eine Tragbahre zu beschaffen, ehe diese jedoch zurückkehrten, schlug die Ohnmächtige die Augen auf. Das war gleichsam das Zeichen für die Menge, ihren Gefühlen Luft zu machen; mit Freu denrufen und Glückwünschen umringt man die Gerettete, zugleich stürmte man von allen Seiten mit Fragen auf sie ein. „Hör'," hieß es, „wie ist Dir's? befindest Du Dich wohl? was ist Dir geschehen? wie bist Du in den Brunnen gekommen? wie hat Dich das Unglück getroffen?" Das Mädchen überfiel ein krampfhaftes Zittern; sie schloß die Augen wieder und wehrte mit der Hand ab, als wolle sie alle diese Fragen zurückweisen. „Sie ist zu sehr angegriffen und kann jetzt nicht sprechen," sagte ein bejahrter Mann, der Schulze des Ortes. Da kommen die Burschen. Der Schulze sagte: „Legt sie sanft auf die Bahre und thut, was Euch der Herr Schulmeister gesagt hat!" Als man sie auf die Bahre legen wollte, gab sie das nicht zu; sie richtete sich auf und versuchte zu gehen. Allein sie wankte, einige Freundinnen mußten sie stützen. Sie war Dienstmagd; man führte sie in das Haus des Bauern, bei dem sie diente; die Bäuerin war eine gutmüthige Frau und nahm sich auf freund lichste Weise des Mädchens an. Während ihre nassen Kleider abgelegt und sie zu Bette gebracht wurde, kochte die Bäuerin einen kräfti gen schwarzen Kaffee und brachte ihn dem Mädchen selbst vor'S Bette. Dieses hatte sich nach einiger Zeit so erholt, daß man außer der tiefen Blässe des Gesichts keine Spuren des Vorgefallenen mehr wahrnahm, mit Ausnahme der Schramme an ihrer Stirne. Einige Freundinnen waren bei ihr geblieben, auch die Bäuerin müßigte sich ein Stündchen Zeit ab, rückte sich einen Stuhl vor das Bett der Kranken und begann mit dieser sich zu unterhalten. „Nun aber sage mir nur, Evi," begann sie, „wie bist Du in den Brunnen gekommen! wie hast Du das angefangen? Du hast ja schon hundertmal Wasser geholt, was ist Dir denn heute geschehen?" Evi fuhr zusammen, ihr Gesicht wurde noch blässer, ihre Augen füllten sich mit Thränen. „Bist Du denn ausgeglitten," fuhr die Bäuerin fort, „oder hast Du einen Schwindel bekommen, der Dich hinabzog?" Evi schwieg. „Gewiß," fuhr die Bäuerin fort, „war's ein Schwindel, der Dich ergriff, so daß Du das Gleichge wicht verlorst und hinabstürztest?" „Jst's nicht so?" „Fragt mich nicht," rief Evi plötzlich laut auf schluchzend und in so gar jammerndem Tone, daß es durch die Seele der Zuhörerinnen schnitt: „Ach läge ich noch im Brunnen und wäre todt!" Die Mädchen und auch die Bäuerin waren er schrocken. „Mein Gott!" rief diese, „was ist das, Du bist ja ganz außer Dir?" Evi brach in ein krampfhaftes Weinen aus. Die Mädchen warfen sich fragende Blicke zu und suchten die Bekümmerte zu trösten, aber umsonst. „Evi!" hob die Bäuerin nach einer Weile an, „Dein Wesen ist so auffallend, daß man aus ganz eigene Gedanken kommt. Bist Du durch Unvorsichtig keit oder sonst einen Zufall in den Brunnen gefallen, so könntest Du jetzt Gott danken und froh sein, daß das so glücklich abgegangen ist. Du bist gerettet, Du befindest Dich leidiglich wohl, und Alle freuen sich, daß Du wieder unter uns bist. Warum freuest!Du Dich nicht? warum sprichst Du so verzweifelte Worte: Du wolltest, Du lägst noch im Brunnen und wärest todt?" „Ich kann's Euch nicht sagen," schluchzte Evi. „Hast Du denn sonst," fuhr die Bäuerin fort, „eine schwere Sorge oder einen Kummer auf dem Herzen? Sag's offen, ich will Dir helfen und beistehen, so viel ich kann!" Der Blick der Bäuerin ruhte treuherzig und freundlich auf dem armen Mädchen. Evi schien ge rührt von der Güte ihrer Herrin ; sie richtete sich auf, es schien, als wolle sie sprechen, ihr Herz öffnen und von einer Last befreien; da sank ihr Kopf wieder in die Kiffen, und sie bedeckte schweigend mit beiden Händen das Gesicht. „Evi, Evi!" fuhr die Bäuerin in einem ernstem Tone fort, man möchte fast glauben, Du wärest nicht durch Zufall in den Brunnen gerathen, sondern Du hättest —" „Was!" schrie Evi auf, „was glaubt Jbr?" „So sage es doch," entgegnete die Bäuerin, „bist Du denn durch Dein eigenes Verfahren hinabgestürzt?"