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/reitag. Nr. 3. 10. Januar 1868. Erscheint Dienstags und Freitags. Zu beziehen durch alle Postanstalten. Weißeritz-Zeitrmg.H Amts- und Anzeige- Matt der Königlichen Gerichts-Ämter und Itadträthe zv Dippoldiswalde vnd /raueusteiu. Vermiwortlicher «edacteur: Carl Zehne in Dippoldiswalde. - ' —' Die Noth in Ostpreußen. Der gänzliche Mißwachs in den östlichen Landes- theilen Preußens hat die schlimmste Noth hervorge rufen. Von der preußischen Regierung wurden für die Nothleidenden über 1 Millionen Thlr. bestimmt, aber diese Summe reicht bei weitem nicht aus, denn ihre Zahl beläuft sich auf 1,300,000, die eine Fläche von über 500 Quadratmeilen bewohnen. Betrachten wir dieses Unheilder Noth, das bald da, bald dort auf tritt, so müssen wir ohne Bemäntelung gestehen, daß nicht lediglich Mißernte, sondern auch das Mißre gieren daran Schuld hat. Unsere bureaukratischen Schablonenregierungen mit ihren maßgebenden Ober häusern und Ersten Kammern stehen zu isolirt vom Volke, sie kennen nicht und wollen nicht die Bedürf nisse des Volkes kennen, und statt eine Krankheit zu verhüten, kuriren sie erst an der Krankheit herum, wenn sie ganz bedrohlich zum Ausbruch gekommen ist. Die Mittel reichen dann nicht aus. Man hat „heiden mäßig viel Geld" für depossedirte Fürsten und der gleichen; doch für das Volk, wenn seine Noth und Verzweiflung auf's Höchste gestiegen, muß man bei Privaten — betteln gehen. Doch verdüstern wir nicht das dunkle Bild noch mehr. Das unbeschreibliche Elend in Ostpreußen soll nur unsere rein menschliche Seite, ohne jede Parteifarbe, berühren. Wo Menschen, wo unsere Brüder hungern und darben, da muß jeder Parteihaß aufhören. Wir geben hier ein Privatschreiben an die Redaction der „Zukunft." „Wer des Schneetreibens in warme Pelze gehüllt nicht achtete und die Hütten an den großen Straßen besuchte, welcher Anblick! In der Stätte des Jammers, der Armuth, des Elends zusammengedrängt, 10 und mehr lebende Wesen außer den Bewohnern. Wo jeder auf seinem Bettelgange beim einbrechenden Sturm die erste Wohnung erreicht, da muß er bleiben. Da waren alte und junge Frauen, Mädchen und Kinder, alte und junge Männer zusammen. — Der Jammer, die Noth, die Verzweiflung im Blicke aller, der stupidest aussehenden, wie edel geformten, intelligentest blickenden Köpfe, daneben die ausgeprägtesten lauernden Galgen physiognomien, denn welches Unglück ist so groß, daß es das Laster nicht versuchte auszubeuten. Trotz der vielen Menschen der Raum kaum warm zu nennen, denn der kalte, eisige Sturm dringt durch die Fugen selbst guter Holzwände. In der Behausung der Wohl habenden in der Regel nicht eine so zahlreiche Gesell schaft und etwas besser situirt, denn sie ist wenigstens in etwas gesättigt. Macht dieses letztere es vielleicht, daß man durchschnittlich nicht so viele der Verzagtesten sieht, oder fühlt sich das höchste Unglück in der höchsten Noth mehr zum Unglück gedrängt, fürchteten die Aermsten und Verzagtesten von der Thür der Reichen abgewiesen zu werden, wenn sie Obdach begehrten, ja begehren mußten, denn ein nicht erlangtes war der Tod. Möglich, aber wir hoffen, kein Reicher hat es gestern verweigert. Heute bei 21 Grad Kälte, aber ruhigem Wetter, stand die Thür bei Wohlhabenden und Reichen nicht still. Trauernde, wankende, bittende Gestalten, die kamen. In diesem Hause, die Kunde hat sich verbreitet, hält die Hausfrau warme Suppe und einige kleine Brode täglich für die Armen in der Frühstunde bereit. Kaum, daß es 9 Uhr geworden, beginnt die Wanderung dahin. Um 10 Uhr ist längst alles Bereitete verzehrt und doch hat die milde Hausfrau mit strengem Blick ihren Besuch gemustert, manchen mit einer kleinen Geldgabe abgewiesen und das Essen nur für die Alten und Kinder reservirt. Manch hartes Wort hat sie dabei gehört, aber ruhig und bestimmt, mitunter auch mit harten Worten, denn sie weiß, anders dringt sie nicht durch, hat sie ihr Amt verwaltet. Jetzt können die weiter Bettelnden nur noch Geldgaben erhalten. — Wie mancher schleicht still trauernd von dannen, er erwartete nicht einen oder 2 Pfennige, er hoffte auf Essen, wie mancher aber macht auch seiner Täuschung Luft in den härtesten, ungerechtfertigsten und brutalsten Ausdrücken. Er hat sicher unrecht, aber wer der Ge bildeten, Nichthungernden, will diesen Ungebildeten, vor Hunger Verzweifelnden schelten, schelten in. einem Staate, der das Mein und Dein anerkannt, dessen Religion wie Strafgesetzbuch lehrt: „Du sollst nicht stehlen," und der doch nicht sorgt, daß das Verhungern eines arbeitslustigen und fähigen Menschen unmöglich wird, wer will ihn schelten? — Jetzt naht ein Mann in seinen besten Jahren. Er ist aus der Nachbarschaft, sonst kräftige frische Gestalt. Die Hausfrau kennt ihn. Er ist ein nüchterner tüchtiger Arbeiter, Ehemann, Vater von vier Kindern. „Mann, wie seht Ihr aus?" ruft sie erschreckt beim Anblick dieses schwankenden Schattens. — „Ich hungre, Weib und Kind hungert; in meiner Gemeinde sagt man, ich sei jung und arbeits fähig und giebt mir nichts. Sie haben Recht, aber wo bekomme ich Arbeit?" — „Aber Mann, warum geht Ihr heute nicht Schnee schaufeln; Hunderte von Arbeitern sind ja an der Bahn beschäftigt, noch keiner der gestern fälligen Züge ist eingetroffen, da giebt's Arbeit und hohen Verdienst!" — „Ach, Madame, ich möchte weinen, daß ich den nicht mehr mitnehmen kann, aber ich bin schon zu schwach, zwei Stunden habe ich gebraucht, diese viertel Meile zurück zu legen, ich hoffte, noch zum Essen hier zu sein, es ging nicht