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640 Berlin. Von der Regierung wird dem Vernehmen nach das Project vorbereitet, neben dem Kieler noch einen zweiten Ostsee-Hafen, auf der Insel Rügen bei Jasmund, anzulegen. Durch die aus strategischen Rück sichten gebotenen umfangreichen Besetzungs-Anlagen sollen sich die Kosten nach einem ungefähren Anschläge auf ungefähr 25 Millionen Thaler belanfen. — Die deutsche Nordpol-Expedition ist am 10. October Nachmittags glücklich wieder in die Weser eingelaufen. Das Festkomitee fuhr derselben in einem Dampfschiffe entgegen; alle Schiffe im Bremer Hafen flaggten. Ist die Expedition auch nur halb ge glückt, so dürfen wir uns doch dieses kühnen nationalen Unternehmens freuen. — Die Denkschrift des Kurfürsten von Hessen, in welcher er sich über seine Thronentsetzung beklagt und des Himmels Rache auf Preußen herabruft, hat wenig Eindruck gemacht. Am meisten geärgert darüber ist die kurfürstlich hessische Demokratie der „hessischen Volks-Zeitung." Sowohl der demokratische „Stuttgarter Beobachter" und die „Frankfurter Zeitung," als auch die Berliner „Zukunft," wollen etwas von einer Wieder einsetzung des Kurfürsten wissen. Verfasser der nicht ungeschickt geschriebenen Denkschrift ist der Sohn des ehemaligen Curators der Universität Halle, Pernice, der wegen seiner Liebe zu Bier und Wein sein akade misches Lehramt zu Göttingen aufgab und jetzt dem Herrn Kurfürsten zu Willen lebt. Oesterreich. Es scheinen sich Menschen und Verhältnisse verschworen zu haben, um gerade das jetzige liberale Bürgerministerium „Herbst-Giskra" nicht als besonders segensreich für den Kirchenstaat erscheinen zu lassen. Der Einfluß des Deutschthums in demselben macht entschieden Rückschritte. In Ungarn ist er heu tigen Tages gleich Null, und in Galizien ist erst jetzt die Universität zu Krakau, an welcher auch deutsch vorge tragen wurde, zu einer rein polnischen gemacht worden. Nur in Böhmen erfreut sich das Deutschthum eines größeren Schutzes, aber leider den czechischen Jntriguen gegenüber (s. den folgenden Artikel aus Prag) nur mit Hilfe des Belagerungszustandes zu Prag. Prag. Da sich die Excesse mehrten, das Mi litär einschreiten mußte und das Schlimmste zu befürchten war, so ist eine kaiserliche Verordnung erschienen, nach welcher für Prag und Umgegend die auf das Vereins wesen und die Presse bezüglichen Bestimmungen der Staatsgrundgesetze ausgehoben sind; derBelagerungs« zu st and ist eingetreten. Freiherr von Kellersperg ist von seinem Posten als Statthalter von Böhmen ent hoben worden und an seine Stelle ein Militär (Feld- marschall-Lieut. Keller) gekommen. In Folge kaiserlicher Entschließung stellte der Statthaltereileiter an den Prager Stadtrath die Forderung, die Localpolizei an die Staatspolizei zu übergeben. Das Collegium beschloß, der kaiserlichen Entschließung ohne jeden Widerspruch sofort Folge zu leisten. Auch die Prager Communal- wache soll aufgelöst worden. Paris. Telegraphisch und brieflich wird gemeldet, auch von französischen Zeitungen gebracht die Nachricht, daß der Kaiser, durchdrungen von dem unbehaglichen Zustande, welcher aus den Geschäften lastet, sich ent schlossen habe, einer europäischen Entwaffnung aus friedlichem und diplomatischem Wege, statt einer Entwaffnung als Folge des Krieges, Geltung zu ver schaffen. Das Verdienst, eine solche Maßregel angeregt und durchgeführt zu haben, wenn dies gelänge, wäre auch jetzt kein geringes, obschon es damals ein viel größeres gewesen wäre, als Napoleon noch an einen Krieg mit Deutschland und an Allianzen für diesen Fall denken zu können schien, was er jetzt doch schwerlich mehr thut. Der Vexir-Cotillon. Erzählung aus dem wirklichen Leben von Eduard Gottwald. Wenn es irgend eine Familie gab, in deren Dienst zu treten sämmtliche Condition suchende Stuben-, Küchen-, Haus- und Kindermädchen der ganzen Stadt sehnlichst wünschten, so war es die sehr achtbare Fa milie des reichen Kauf- und Handelsherrn Müller. „Aber warum denn?" werden vielleicht einige freund liche Leserinnen fragen. „Giebt es dort nicht viel zu thun? Hohen Lohn und viel Trinkgelder? Viel freie Sonntage u. s. w. ?" „Dieß weniger! — Zu thun giebt es dort sehr viel, denn Madame Müller ist eine streng auf Ord nung und Reinlichkeit haltende wackere Hausfrau! — Lohn und Trinkgelder giebt es dort auch nicht mehr, als dieß bei jeder andern achtbaren bürgerlichen Fa milie der Fall sein dürste, und einen freien Sonntag haben die Dienstmädchen dort — ohne Unterschied aus Stuben-, Küchen- oder Kindermädchen — nur während sechs Wochen einmal!" „Nun, dann begreifen wir nicht, warum sich die Dienstmädchen so gern dorthin wünschen! Was hatte denn dieser Dienst so unwiderstehlich Anlockendes für solche Mädchen?" „Nun, hören Sie: Die stärkste Anlockung, in diesen Dienst zu treten, lag für junge Mädchen darin, daß Madame Müller jedem derselben bisher gestattet hatte, von ihrem Liebhaber — sobald ein solcher sich gefunden und er sich eines unbescholtenen Rufes er freute — Besuche in der Wohnung der Herrschaft — oder vielmehr unter deren Augen — anzunehmen!" In Folge dieser Erlaubniß hatten diese Liebschaften zum großen Theile mit einer Heirath geendigt, und daher war es wohl erklärlich, warum sich, sobald eine Dicnstmädchenstelle im Müller'schen Hause vacant wurde, Hunderte von heirathslustigen Mädchen darnach drängten; denn jedes Mädchen, welches dort in den Dienst trat, glaubte sicher und gewiß über kurz oder lang dort einen Geliebten zu erhalten, welcher sie mit Ehren unter die Haube bringen würde, ehe das drei ßigste Jahr vorübergehe, oder, wie es in der Volks sprache heißt: ehe der Thaler, zu dreißig Neugroschen gerechnet, voll werde; was gewiß jede Jungfrau wünscht, sie mag ein cattunenes Fähnlein oder ein Atlaskleid tragen, sie mag die Tochter eines armen Handarbeiters oder eines Millionärs sein. Auch Auguste, ein hübsches, solides Mädchen, welches bereits seit drei Jahren im Müller'schen Hause diente und sich der vollsten Zufriedenheit ihrer Herrschaft erfreuete, sollte nicht ohne Liebhaber bleiben, und diesen in der Person eines ehrsamen Schuhmacher gesellen erhalten, der bei demselben Meister in Arbeit stand, welcher seit Jahren schon als Damenschnhmacher für das Müller'sche Haus arbeitete. — Dort lernte