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Auch für fehlende Medikamente sorgte er, und der Stadtrath empfing deshalb sehr oft dringende Bitt- schreiben von ihm. Die größte Bekümmerniß machte ihm indeß die wachsende Zahl der verwaisten Kinder, die verlassen umher irrten und derer sich Niemand erbarmen wollte, weil — die Eltern an der Pest gestorben waren, und weil man fürchtete, von ihnen angesteckt zu wer den. Sie schrien nach Brod, sie riefen nach Vater und Mutter, sie suchten Obdach, ach! sie hallen eine Menge Bedürfnisse, die ihnen Jedermann versagte. Da nahm er sich derselben an, so viel er vermochte. In der Nähe deS Hospitals stand ein leeres HauS, das er selbst reinigte und vom Pestgift, woran sämmt- licke Bewohner desselben gestorben waren, durch Räuchern und dergl. befreiete. ES bot Raum für viele Kinder. Dorthin führte er die Verlassenen, übergab die Kleineren der Aufsicht der Größeren, sorgte für Nahrung und Kleidung derselben und hü tete sie mit größter Aufmerksamkeit vor jedem Unfälle, der sie treffen konnte. Es sammelten sich nach und nach deren siebenunbfünfzig, die er alle wie ein Vater pflegte, alle wie seine Kinder liebte, und denen er jeden müßigen Augenblick widmete. So lange ihn der Herr beschützte, gedachte er auch ihnen allen ein Schutzgeist in dieser jammervollen Zeit zu sein. Wo her in der Folge die Mittel zur Erhaltung der Kin derschaar kommen sollten, überließ er vertrauensvoll dem Höchsten, der gewiß weiter sorgen werde. Konnte er doch wohlthun und erfreuen! Sein Leben hatte wieder einen Zweck, und mit dem Pfunde, daS ihm Gott verliehen, konnte er wieder wuchern. Ob gleich unglücklich noch in mancherlei Hinsicht zu nennen, fühlte er sich jetzt doch glücklich. Niemals noch er füllte seine Seele ein solcher Friede, eine solche Selig keit, als in dieser furchtbaren, gefahrvollen Periode, wo ein so weites Feld seinem Wirken sich darbot. Ja, gern würde er noch Schwereres auf sich geladen haben, als er bereits trug. Eines Tages wurde er in das HauS der vor maligen Handelsherrn Bernhard Schäch gerufen, um der ältesten hinterlassenen Tochter desselben, die von der Pest ergriffen worden, daS heilige Mahl zu reichen. Sie hatte in wenig Tagen Vater und Mutter und sechs Geschwister verloren und stand nun ganz allein; auch war Niemand zu bewegen ge wesen, bei ihr zu bleiben und sie zu pflegen. Als Uh le in daS Zimmer trat, lag daS Mäd chen auf dem Bettchen, keuchend Athen, schöpfend und in sich .gusammengekrümmt. Ein heißer Dampf ent strömte ihrem Munde, große Schweißtropfen perlten von dem Gesicht herab und schnell hob sich ihr Busen. Der erste Blick, den er auf die liebliche Jungfrau richtete, sagte ihm sogleich, baß die furchtbare Wür gerin bereits ihr Opfer umklammert halte und bald der Kampf beendet sein werde. Wenn sonst sein Herz stets von Theilnahme erfüllt wurde, sobald er sich einem Leidenden nahete, so fühlte er sich hier doppelt ergriffen, zum Erbarmen hingerissen; Venn eS war die schönste Gestalt, die daS Ungeheuer erwählet. Anna Schäch zählte nur erst zwanzig Jahre; aus dem schönen Antlitz sprachen Sauftmuth und HerzenS- güte, daS ganze Wesen, daS über derselben ausge breitet lag, fesselte; sie schien ein Engel zu sein. Als sie Uhle bemerkte, winkte sie ihm näher zu treten und versuchte sich zu erheben; doch alsbald sank das von Hitze glühende Haupt wieder zurück, und sie vermochte bloS zu lispeln: „Herr, reicht mir das heilige Mahl und spendet mir Euern Segen, denn ich fühle, mein Ende ist nicht fern mehr!" Hierauf kniete Uh le vor dem Lager nieder und betete, seine Augen auf die mit ihm betende Kranke richtend; doch niemals noch betete er, wie er sich selbst gestand, andächtiger, inniger, herzlicher. Dann reichte er derselben daS heilige Mahl und bereitete sie zum nahen Tode vor. Ach, hätte er vermocht, diese Jungfrau den Krallen desselben zu entreißen, wie glücklich, wie unaussprechlich glücklich wäre er gewesen? Eltern und sechs Geschwister hatte sie ge pflegt, ohne von der Pest berührt zu werden, und nun sie allein stand, selbst aller menschlichen Hilfe entbehrte, da streckte der kalte Tod auch nach ihr die Hände aus, und wollte die liebliche Blume brechen. Sollte sich dann der Herr nicht der einzigen Uebrig- gebliebenen erbarmen? Uh le verzweifelte noch nicht; er selbst wollte hier wie er ja bei Vielen schon gethan, pflegen, sorgen und suchen, die erfaßte Beute dem Tode zu entreißen. War es doch, als hielte eine unsichtbare Macht ihn fest an diesem Lager, als dränge ihn ein gewaltiges Wesen, hier Alles zu wagen, Alles aufzubieten, die Unglückliche zu retten. Vielleicht segnete der Herr sein Mühen; vielleicht wurde er das Werkzeug deS Waltens göttlicher Gnade und Barmherzigkeit. Ein Menschenleben hatte seine Hand mörderisch geendet, sie sollte ja nun nur dazu geweihet sein, Menschen leben zu retten, Menschen zu segnen und ihnen wohl- zuthun. Und schnell reichte er ihr von den Tropfen, die er gewöhnlich bei sich führte, und die er selbst auS Kräutern zu bereiten verstand; dann eilte er in'S Hospital zurück, holte von den stets in Vorrath da selbst zu findenden Heilmitteln, die ihm als besonders wirksam bekannt waren, den nöthigen Bedarf herbei, und suchte zunächst die Macht der Pest durch Beseiti gung der Hitze zu brechen. So lange ihm sein Amt, ohne es zu vernach lässigen, zu bleiben gestattete, blieb er bei der Kranken; und als er endlich weitere Besuche machen mußte, tröstete er selbige mit der Versicherung, bald wieder erscheinen und sie fernerhin pflegen zu wollen. DaS that er auch. Die ganze Nacht hindurch weilte er an Anna'S Lager und wendete seine Heil mittel an. Am Morgen überzeugte er sich zu feiner nicht geringen Freude, baß der Zustand wenigstens kein schlimmerer geworden war, und seine Hoffnung gewann mehr und mehr Festigkeit. Bei der Sorgfalt, die er von nun an der Patientin widmete, zeigten sich auch bald Spuren, daß sich die Krankheit min dere, und Uh le bemerkte mit Entzücken, die Gefahr beginne zu weichen. Nach acht Tggen war er dessen völlig gewiß; er hatte unter Gottes Beistand gesiegt, der Herr erbarmte sich der Jungfrau. Allgemach er holte sich Anna wieder, und als noch einige Wochen verflossen waren, fühlte sie sich schon in soweit ge kräftigt, daß sie das Lager verlassen konnte. Schluß folgt.