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Weißeritz-Zeitung PreiS pr» Quartal Iv Ngr. Inserate die ^Spalten-Zeile 8 Pfg. Erscheint Dienstags undi Freitags. Zu beziehen durch alle Post anstalten. Amts- and Anzeige-Watt der Königlichen Gerichtsamter und Stadträthe zu KippoldiSValde, Mucnstcin und Altenberg. Verantwortlicher Redactcur: Carl Ich ne in Dippoldiswalde. Rück- und Vorblick. Von dem neuen Jahre, in da« wir eben eingetreten find, zurückgezählt, ist seit dem Jahre l 848 ein Decennium ö Z mit merkwürdigen Ereignissen und Veränderungen verflossen. Wer dieses Jahrzehnt erlebt, hat von weltgeschichtlichen l Ereignissen und socialen Veränderungen mehr erlebt, als früher in 3V Jahren. Seit l848 datirt die neueste Geschichte; mag man dagegen sagen, was man wolle. Unter diesem letzten Jahrzehnt zeichnen sich nun am meisten : die beiden Jahre 1848 und 1857, wenn auch in nicht löblicher Weise aus. Das Jahr 1857 kann man ebenso das „tolle" nennen, wie das Jahr 1848, wenn auch in , geringerem Maße. Vom Oktober an haben wir eine i Reihenfolge von Zahlungsunfähigkeiten und Banquerotteu gehabt, wie früher noch nie; wir haben Demüthigungen des volkswirthschaftlichen Zustandes der Völker erlebt, die , nur mit den volitischen Niederlagen der staatlichen Zustände von 1848 verglichen werden können. Der Siegeslauf der menschlichen Betriebsamkeit und Erfindungsgabe hat seine plötzliche Unglücksprobe gehabt und ist zu leicht erfunden worden. Die große Handelswelt, von der die Beschäfti ¬ gung von Millionen abhängt, geht beinahe im Zustande der Zahlungsunfähigkeit in's neue Jahr hinüber. Aber die Welt wird deshalb nicht die Hände in den Schooß legen. Dem ersten Schrecken über die Unglückstage ist doch nicht eine allgemeine Entmuthigung gefolgt. Die Demüthigung hat nicht den aufstrebenden und schaffenden Geist der arbeitenden Menschheit gelähmt, — sie hat ihm nur die alte Warnung vom Neuen eingeschärft: Der Mensch lebt nicht vom Brode allein! Es giebt noch ein höheres Gut, als Reichthum und Wohlleben, als im Jagen nach Gewinn. Aber die Arbeit selbst bleibt eine göttliche Ein richtung, und das vernünftige Streben nach leiblichem Wohlbefinden kann an und für sich dem Menschen nicht zum Vorwurfe gereichen; dieses Streben ist eine Vorbe dingung der geistigen und sittlichen Kultur. Nicht diesem redlichen Streben nach Wohlstand gelten die Strafgerichte, unter welchen in den letzten 3 Monaten so manche irdische Herrlichkeit zusammengebrochen ist; nur den unlautern Geist der Gewinn- und Genußsucht hat die Hand an Belsazars Wand brandmarken wollen. Mit neuem Mnthe, und so Gott will, mit gereinigtem Herzen werden die Menschen die Arbeit und den Handel im Großen wieder aufnehmen, welche sie im Schrecken über den Einbruch des Sturmes von sich warfen. Man könnte fast sagen, die Lage der Welt spiegelt sich wieder in der Lage zweier Unternehmungen, der größten, welche das Jahr 1857 uns unvollendet hinterlassen haben. Der atlandische Telegraphendraht, welcher Amerika mit Europa verbinden sollte, ist zerrissen. Das eiserne Riesen schiff, der Leviathan, fitzt noch immer regungslos auf dem Ufer der Themse. Aber die Thatkraft der Unternehmer wird sich durch die erlittenen Unfälle nicht abschrecken lassen. Das Jahr 1858 wird das Riesentau über den Ocean und das Riesenschiff in den Ocean tragen. Das Jahr 185H wird auch die Riesenmaschine, welche wir Handel und Gewerbe nennen, wieder in Schwung und Thätigkeit setzen. Die Welt ist im Durchschnitt ärmer geworden, weil seit 3 Monaten Handel und Gewerbe so ziemlich still standen. Sie hat 3 Monate hindurch fast nur von dem vorhandenen Vorratbe gezehrt. Aber sic ist auch reicher geworden an unschätzbaren, wenn auch bitteren Erfahrungen. DaS Unglück der letzten drei Monate hat uns eindringlich gepredigt, welch' hohen Werth die Tugenden der Redlichkeit, der Besonnenheit, der Gewissenhaftigkeit und des Maßhaltens haben. Der Schwindel, der Leichtsinn, das Ueberstürzen, das maßlose Crcditnehmen haben schrecklichen Schiffbruch erlitten. Wohl Demjenigen, dem das äußere Unglück nicht den inneren Frieden raubt. Er wird bessere Tage wiedersehen, oder er wird mit Ehren fallen. Wie die geistige Energie der Amerikaner, der Engländer und Deutschen, inmitten des furchtbarsten Aufruhrs einen glänzenden Triumph ge feiert hat. weil sie das Bewußtsein ihrer Pflicht und das Vertrauen zu ihrer Kraft nicht verlor, so wird die Willenskraft, das Pflichtgefühl und das Selbst vertrauen der hartbedrängten Bürgerklaffen Europa'S und Amerika's über die Stürme siegen, welche der Schwindel und Betrug über sie heraufbeschworen hat. Sieg und Sühne stehen auf derselben Fahne geschrieben; möge die Welt sie kräftig und vertrauensvoll emporhalten. Auch der SipoyS-Aufstand des volkswirthschaftlichen Lebens hat» wie jener indische, seine schuldlosen Opfer gefordert, Frauen und Kinder in's Unglück gestürzt, — wer wollte es leugnen? Aber diese wehmüthige Betrachtung darf die Welt nicht abhaltcn, ihre Schuldigkeit zu thun. Wer kann sagen, er sei ganz unschuldig? Wer von den Männern hat nie den Weg der Unvernunft betreten, wer von den Frauen ist nie auf die Straße der übertriebenen Prunk- und Genußsucht abgewichen? Wer kennt nicht die „Neujahrsnacht eines Unglück lichen," welche der Dichter Jean Paul mit so erschütternder Beredsamkeit geschildert hat? Der Unglückliche sieht in dieser Nacht sein ganzes verlorenes und verscherztes Leben vor sich, und die tiefste Seelenqual bringt ihn zur Sclbst- erkenntniß und Reue. Wenn er jetzt noch einmal leben könnte, er würde anders leben, als er in keiner Verblen dung gethan. Da erwacht er als Jüngling, — denn Alles ist zum Glück nur ein banger Traum gewesen, — und das Leben liegt noch offen vor ihm.